Photo: Kristina Meyer (c) Marcus Schulze

Kristina Meyer im Gespräch

The Foundation

Die Historikerin Kristina Meyer nimmt am 15. April 2020 ihre Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung auf. Sie folgt damit auf Bernd Rother. Zuvor war sie als wissenschaftliche Geschäftsführerin des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts tätig. Wir freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit und haben mit ihr zum Dienstantritt ein kurzes Interview geführt.

 

Wenn Sie an Willy Brandt denken – was fällt Ihnen als Erstes ein?

Mir fällt als Erstes eine Postkarte ein, die ich jeden Tag sehe, weil sie an meinem Kühlschrank hängt: Sie zeigt den 16-jährigen Schüler Willy Brandt 1930 in Lübeck, lässig und selbstbewusst an ein Geländer gelehnt – darunter der Rat seines Lehrers an die Mutter: „Halten Sie Ihren Sohn von der Politik fern! Der Junge hat gute Anlagen.“ Offenbar hatte der Lehrer die Vorstellung, dass Politik zwangsläufig den Charakter verdirbt. Brandt hat bewiesen, dass es auch anders geht – und bestimmt hat er später noch oft über diese Fehlprognose geschmunzelt.

Woher kommt die Faszination, noch ein halbes Jahrhundert später?

Willy Brandt hat die Gesellschaft der Bundesrepublik in ihrer Entwicklung auf vielfache Weise herausgefordert und vorangebracht – durch seine Politik, seine Lebensgeschichte und seine Persönlichkeit. Er war eine Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Befindlichkeiten in dieser Gesellschaft, die sich in den Jahrzehnten nach 1945 von einer postnationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ allmählich zu einer demokratischen Bürgergesellschaft wandelte. Er konnte polarisieren und integrieren, das macht es so spannend, sich mit ihm und seiner nachhaltigen Bedeutung für unsere Gesellschaft zu beschäftigen.

Welche Lehre könnte die Politik aus Brandts Wirken für heutige Herausforderungen ziehen?

Willy Brandt hatte die Gabe, sich in die Perspektive anderer hineinzuversetzen, Ambivalenzen auszuhalten und zwischen widerstreitenden Positionen zu vermitteln – ob es um innergesellschaftliche oder um außenpolitische Konflikte ging. Dass es unseren Gesellschaften gegenwärtig an einer solchen „Ambiguitätstoleranz“ und an Akzeptanz für die Mechanismen einer pluralistischen Demokratie insgesamt mangelt, zeigen die Erfolge des Rechtspopulismus und der um sich greifende Hang zu Verschwörungsmythen. Von Brandt können wir auch heute noch „mehr Demokratie“ lernen, davon bin ich überzeugt.

Wie werden Sie die nächsten Monate verbringen und worauf freuen Sie sich besonders?

Ich werde die Veranstaltungen der Stiftung rund um den 50. Jahrestag von Willy Brandts Kniefall vor dem Mahnmal des jüdischen Ghettos in Warschau koordinieren. Einen interessanteren Start könnte ich mir kaum vorstellen, denn diese Geste und die vielen Facetten ihrer Intention und Wahrnehmung weit über Deutschland hinaus bis in unsere Gegenwart beschäftigen mich seit vielen Jahren, auch in meinen Forschungen. Ich hoffe sehr, dass die Coronakrise vorbei ist, wenn wir im Herbst mit vielen internationalen Partner*innen an dieses wichtige Datum erinnern wollen.

 

Kristina Meyer studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Kommunikationswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Für ihre Dissertationsschrift “Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945-1974” (erweiterte Fassung 1945-1990, erschienen im Wallstein Verlag, Göttingen 2015) wurde sie mit dem Willy-Brandt-Preis für Zeitgeschichte 2015 ausgezeichnet. Seit 2006 war sie geschäftsführende Assistentin, seit 2013 wissenschaftliche Geschäftsführerin des von Norbert Frei geleiteten Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sie ist Mitglied im Beirat des von der Hans Böckler Stiftung geförderten Forschungsprojektes „Eine neue Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung“ am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow in Leipzig sowie im Beirat der Kommission „Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie“ der Hans Böckler Stiftung. Seit Februar 2019 ist sie zudem Mitglied des SPD-Geschichtsforums und seit Juni 2019 Co-Sprecherin des Forums.

Dr. Kristina Meyer

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

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