Foto: J.H. Drachinger/FES

Als das Land einen seiner Besten verlor

Die Stiftung

Die Nachricht aus Unkel gelangt erst Stunden später an die Öffentlichkeit: Willy Brandt ist seinem Krebsleiden erlegen, am 8. Oktober 1992 um 16.35 Uhr. Am Tag darauf beherrscht die Meldung vom Tod des früheren Bundeskanzlers und SPD-Vorsitzenden die Nachrichten. In der „Tagesschau“ nehmen die Berichte zehn der 15 Minuten ein, die Reaktionen aus dem In- und Ausland drängen andere aktuelle Ereignisse in den Hintergrund.

Tausende – bei weitem nicht nur SPD-Mitglieder – gehen in der ganzen Republik spontan auf die Straße. In Kundgebungen und Fackelzügen gedenken sie des großen Sozialdemokraten, Antifaschisten und Friedensnobelpreisträgers. In Berlin rufen der Regierende Bürgermeister und die SPD gemeinsam dazu auf. Die Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen erheben sich zu Ehren Willy Brandts zu einer Schweigeminute. In den SPD-Geschäftsstellen landauf, landab liegen Kondolenzbücher aus. Ganze Schulklassen tragen sich ein, auch politische Gegner. Im Bonner Regierungsviertel fragt sich ein Obdachloser solange durch, bis er das Buch findet.

»Dank und noch einmal Dank«

Aus den Nachrufen sticht der von Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heraus: „Was ich empfunden habe, als ich um zwei Uhr nachts die Worte des Rundfunksprechers hörte, war (…) noch einmal Dank. Noch einmal: Denn seit jenem Tag, da die Weltpresse das Bild des vor dem Denkmal des Warschauer Gettos knienden Willy Brandt gezeigt hatte, wusste ich, dass ich ihm bis zum Ende meines Lebens Dank schuldig sein werde.“

Der Bundespräsident ordnet für den Verstorbenen ein Staatsbegräbnis an. Die Bundesrepublik ehrt so einen ihrer Größten, einen, der entscheidende Weichenstellungen vorgenommen hat. Der Sarg wird von Unkel nach Berlin übergeführt und am 16. Oktober im Rathaus Schöneberg aufgebahrt. Wieder nehmen Tausende von Willy Brandt Abschied, hier auch von ihrem ehemaligen Regierenden Bürgermeister, defilieren am Sarg vorbei.

Am 17. Oktober findet der Trauerstaatsakt im Reichstag statt. Führende Politiker und Weggefährten Willy Brandts aus aller Welt sind angereist: UNO-­Generalsekretär Boutros ­Boutros-Ghali, Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand, Michail Gorbatschow, bis vor zehn Monaten Staatsoberhaupt der mittlerweile aufgelösten UdSSR, Prinz Charles und viele andere mehr. Ein leichter Schatten fällt auf die würdige Feier, als bekannt wird, dass Willy Brandts frühere Gattin Rut nicht eingeladen ist.

»Adiós, amigo Willy«

Die Gedenkreden halten Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Bundeskanzler Helmut Kohl und der SPD-Vorsitzende Björn Engholm, der Brandt einen weltoffenen Patrioten nennt, links und frei. Besonders ergreifend ist die Ansprache von Felipe González, der für die Sozialistische Internationale (SI) spricht. Bis drei Wochen vor seinem Tod ist Willy Brandt Präsident der SI gewesen. Der spanische Ministerpräsident erinnert daran, dass Brandt bereit gewesen ist, den Frieden mit Waffen zu verteidigen. Unvergessen bleiben seine Schlussworte „Adiós, amigo Willy“.

Offiziere der Bundeswehr tragen den Sarg nach draußen, dort spielt die Bundeswehr das Lied vom guten Kameraden – so wie es sich Willy Brandt gewünscht hat. Anschließend fährt der Trauerzug durch die Stadt zum Waldfriedhof ­Zehlendorf. Hier findet der Tote Seite an Seite mit Ernst Reuter seine letzte Ruhe in einem Ehrengrab des Berliner Senats. Auf dem Grabstein steht der Name, sonst nichts.

In den ersten Tagen kann aber von „Ruhe“ nicht gesprochen werden. Ein ununterbrochener Strom von Menschen defiliert am Grab vorbei. An jedem 8. Oktober versammeln sich seither Menschen am Grab, um Willy Brandt zu ehren, der bis heute unvergessen geblieben ist.

Autor: Bernd Rother, Senior Reserach Fellow der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Dieser Text erschien im Vorwärts am 24. September 2022

Die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung gedenkt dem 30. Todestag von Willy Brandt mit einer einer Gedenkfeier am 7. Oktober in Unkel und einer Kranzniederlegung am Ehrengrab von Willy Brandt in Berlin am 8 Oktober.

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