Startseite / Aktuelles / Neuigkeiten / Meilenstein und Ikone Meilenstein und Ikone Der Warschauer Vertrag und Willy Brandts Kniefall vor 50 Jahren. Von Kristina Meyer Stiftung Icon Die Stiftung Veröffentlicht: 30. November 2020 Am Vormittag des 7. Dezember 1970 kniete Willy Brandt vor dem Ehrenmal für die Helden des Aufstands im Warschauer Ghetto von 1943 nieder. Das Foto des knieenden Kanzlers ging um die Welt und ist zu einer Bildikone geworden. Brandts Kniefall zählt zu den berühmtesten Gesten eines deutschen Politikers der Nachkriegszeit. Er ist ein Symbol für die schwierige Auseinandersetzung der Deutschen mit den Verbrechen des Nationalsozialismus, aber auch für den Willen zum Frieden und zur Verständigung mit Polen, das wie kein anderes Land unter der deutschen Gewaltherrschaft im Zweiten Weltkrieg gelitten hatte. 25 Jahre nach Kriegsende reiste Brandt als erster bundesdeutscher Regierungschef in die polnische Hauptstadt. Anlass des dreitägigen Besuchs des Bundeskanzlers, der von einer großen Delegation aus Politik, Kultur, Wirtschaft, Jugendverbänden und Journalismus begleitet wurde, war die Unterzeichnung des Warschauer Vertrags. Der Warschauer Vertrag Der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen geschlossene Vertrag über die Grundlagen der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen war ein zentraler Baustein der Neuen Ostpolitik, die Brandt und die von ihm geführte sozial-liberale Bundesregierung seit 1969 vorangetrieben hatten. Ihr Ziel war es, die schwierigen Beziehungen zu den kommunistisch regierten Staaten im östlichen Teil Europas so weit wie möglich zu normalisieren, den Frieden durch eine Politik der Entspannung zu sichern und langfristig die Teilung des Kontinents zu überwinden. Die Neue Ostpolitik brach insbesondere mit dem auch von der SPD noch bis weit in die 1960er Jahre hinein vertretenen Anspruch auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete. Seit 1949 hatte die Bundesrepublik die zunehmend illusionäre Rechtsauffassung vertreten, dass die in den Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 östlich der Oder-Neiße-Linie gelegenen Gebiete, die durch die Potsdamer Konferenz 1945 formell unter polnische Verwaltung gestellt worden waren, weiterhin zu Deutschland gehören würden. Der Paradigmenwechsel der SPD in der Grenzfrage manifestierte sich im März 1968 auf ihrem Parteitag in Nürnberg, als sich Willy Brandt erstmals offen zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze bekannte. Damit zerbrach der Konsens mit dem Koalitionspartner CDU/CSU in der Ost- und Deutschlandpolitik. Die Unionsparteien sprachen sich zwar auch für die Aufnahme von Beziehungen mit Polen und weiteren Staaten des Warschauer Paktes aus, standen weitreichenden Zugeständnissen aber sehr kritisch gegenüber. Insbesondere lehnten sie im Einklang mit den Vertriebenenverbänden einen Verzicht auf Gebietsansprüche vor Abschluss eines Friedensvertrags kategorisch ab. Der Prozess der Annäherung zwischen der Bundesrepublik und Polen gestaltete sich schwierig. Auf der Ebene der Zivilgesellschaft und der Kirchen waren allerdings bereits Mitte der 1960er Jahre erste Initiativen zur Verständigung ergriffen worden, so etwa durch den berühmten Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtskollegen 1965. Auch auf politischer Ebene waren bereits vor der Bundestagswahl vom 28. September 1969 Gespräche in Gang gekommen: Schon im Mai hatte der Vorsitzende der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei Władysław Gomułka die Idee eines Abkommens mit der Bundesrepublik aufgebracht, war damit aber bei Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger auf Ablehnung gestoßen. Dessen ungeachtet begab sich Egon Bahr im Auftrag Willy Brandts am Tag nach Gomułkas Vorstoß nach Berlin, um sich in einem geheimen Gespräch mit dem Chef der polnischen Mission über Optionen für die Zeit nach einem möglichen Machtwechsel in Bonn auszutauschen. Nach der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler am 21. Oktober 1969 dauerte es nur wenige Wochen, bis im Dezember die Aufnahme offizieller Verhandlungen zwischen den Regierungen in Bonn und Warschau bekanntgegeben wurden. Zwischen Februar und Oktober 1970 trafen sich Staatssekretär Georg Ferdinand Duckwitz und der stellvertretende polnische Außenminister Jozef Winiewicz sechs Mal, um ein Abkommen vorzubereiten. Nach neun weiteren Verhandlungstagen wurde der Vertrag am 18. November von Bundesaußenminister Walter Scheel und seinem polnischen Kollegen Stefan Jędrychowski paraphiert. Beide Länder stellten darin fest, dass die Oder-Neiße-Linie die Westgrenze Polens bildet, erklärten den Verzicht auf jegliche Gebietsansprüche und bekannten sich zur Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen. Sie verpflichteten sich zudem zum gegenseitigen Gewaltverzicht und machten deutlich, diplomatische Beziehungen aufnehmen zu wollen. Unterzeichnet wurde der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen“ am Mittag des 7. Dezember 1970 im Palais des Ministerrats in Warschau von Bundeskanzler Willy Brandt, dem polnischen Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz sowie den Außenministern beider Staaten. Am Abend des 7. Dezember strahlte das deutsche Fernsehen eine Ansprache Brandts aus, in der er nicht nur die Beweggründe und Ziele des Abkommens darlegte, sondern auch den Kritikern der Neuen Ostpolitik mit deutlichen Worten entgegentrat: Beim deutsch-polnischen Vertrag gehe es „um den Beweis unserer Reife und um den Mut, die Wirklichkeit zu erkennen“. Ebenso wenig wie der im August geschlossene Moskauer Vertrag gebe das Abkommen mit Polen irgendetwas preis, was „nicht längst verspielt worden“ sei, namentlich „von einem verbrecherischen Regime, vom Nationalsozialismus“. Er erinnerte daran, dass dem polnischen Volk in den Kriegsjahren „das Schlimmste zugefügt wurde, was es in seiner Geschichte hat durchmachen müssen“, und nahm auch Bezug auf Polen als dem zentralen Schauplatz des systematischen Massenmords an den europäischen Juden: „Namen wie Auschwitz werden beide Völker noch lange begleiten und uns daran erinnern, daß die Hölle auf Erden möglich ist; wir haben sie erlebt.“ Der Kniefall Noch vor der Vertragsunterzeichnung hatte Willy Brandt am Vormittag des 7. Dezember nicht nur das Grabmal des Unbekannten Soldaten, sondern auf eigenen Wunsch auch den Platz der Helden des Ghettos besucht, auf dem seit 1948 ein Ehrenmal an den gescheiterten Aufstand der jüdischen Bewohner erinnert. Im Warschauer Ghetto hatten zeitweise bis zu 350.000 Menschen auf einer Fläche von drei Quadratkilometern gelebt, bevor sie in die Massenvernichtungsstätten deportiert wurden; allein in Polen waren unter deutscher Besatzung rund drei Millionen Jüdinnen und Juden ermordet worden. Nach der Kranzniederlegung sank Brandt mit gefalteten Händen vor dem Ehrenmal auf die Knie und verharrte für etwa dreißig Sekunden schweigend in dieser Position, bevor er sich mit einem Ruck wieder erhob. Die Kameras zahlreicher Journalisten fingen die Szene fotografisch und filmisch ein. Der Spiegel-Journalist Hermann Schreiber schilderte Brandts Kniefall in dem Bewusstsein, einen historischen Moment erlebt zu haben: „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland.“ Willy Brandt hatte gegen den Nationalsozialismus Widerstand geleistet und war vor der Verfolgung ins norwegische Exil geflohen. In den Jahren seit seiner Rückkehr nach Deutschland war er immer wieder wegen seiner Emigrationsvergangenheit attackiert und diffamiert worden. Obwohl ihn keinerlei Mitschuld an den Verbrechen während des „Dritten Reiches“ traf, wollte er mit seinem Kniefall stellvertretend für die Deutschen ein symbolisches Schuldeingeständnis ablegen und ein demütiges Zeichen der Reue setzen – so lautete nicht nur die Interpretation der mitgereisten Journalisten, sondern auch Brandts eigene Deutung. Geplant hatte er den Kniefall nach eigener Auskunft nicht, am Morgen aber gespürt, dass die „Besonderheit des Gedenkens“ am Ort des ehemaligen Ghettos zum Ausdruck gebracht werden müsse. Dem Spiegel gab er zu Protokoll, er habe „im Namen unseres Volkes Abbitte leisten wollen für ein millionenfaches Verbrechen, das im mißbrauchten deutschen Namen verübt wurde“. In der westdeutschen Öffentlichkeit stieß der Kniefall damals auf geteilte Reaktionen: Fast die Hälfte der Bundesbürger hielt die Geste Brandts laut einer vom Spiegel in Auftrag gegebenen Blitzumfrage des Allensbacher Instituts für „übertrieben“, nur 41 Prozent fand sie „angemessen“. Abgelehnt wurde seine Demutsbezeugung vor allem von Menschen mittleren Alters, die zwischen 1910 und 1940 geboren worden waren. Zu einer Zeit, als sich etwa zwei Drittel der Deutschen für einen „Schlussstrich“ unter die juristische, politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus aussprachen, repräsentierte ein solches Reuebekenntnis noch keineswegs die Mehrheitsmeinung. Willy Brandt war sich bewusst, dass seine Geste nicht nur ein wichtiges Zeichen gegenüber den Opfern und Überlebenden der NS-Verbrechen setzte, sondern zugleich eine Signalwirkung in die Gesellschaft der Bundesrepublik hinein entfalten würde: Sein Kniefall war auch eine stille Aufforderung zum Nachdenken über die deutsche Vergangenheit. Nach Warschau Ratifiziert wurde der Warschauer Vertrag ebenso wie die anderen Ostverträge erst am 17. Mai 1972 vom Deutschen Bundestag – nach zähen Debatten und gegen den harten Widerstand der Opposition aus CDU und CSU. Ein halbes Jahr zuvor war Willy Brandt für seine Neue Ostpolitik mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Polen war ein Meilenstein im schwierigen Annäherungsprozess beider Länder im Kalten Krieg, markierte aber dennoch nur den Auftakt zu einer Entwicklung, die erst nach den friedlichen Revolutionen in Polen und in der DDR sowie der Deutschen Einheit zu einer wirklichen Partnerschaft in einem vereinten Europa führen konnte. Der Grenzvertrag vom 21. November 1990 sowie der Nachbarschaftsvertrag vom 17. Juni 1991 besiegelten die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze endgültig und bereiteten auch durch die Vereinbarung über einen verstärkten Jugend-, Kultur- und Wissenschaftsaustausch den Weg zu einem Neuanfang in den deutsch-polnischen Beziehungen, die über zwei Jahrhunderte von Gewalt und Krieg geprägt gewesen waren. Willy Brandts Kniefall hat sich zweifellos als „Erinnerungsort“ in das kollektive Gedächtnis Europas eingeschrieben. Obgleich die Geste weltweit große Beachtung und Anerkennung erfuhr, hat sie ihre stärkste und nachhaltigste Wirkung aber wohl innerhalb Deutschlands entfaltet. Polen würdigt die historische Geste Brandts seit dem Jahr 2000 durch ein dem Kniefall gewidmetes Denkmal, das in der Nähe des Ehrenmals für die Helden des Warschauer Ghettos errichtet wurde. Seither trägt auch der umliegende Platz, auf dem 2013 das Museum für die Geschichte der polnischen Juden eröffnet wurde, den Namen Willy Brandts. Dr. Kristina Meyer Wissenschaftliche Mitarbeiterin E-Mail schreiben Telefon Icon 030 787 707 15 Umfrage Icon Lebenslauf Profil Weitere Neuigkeiten