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Kanzlerwechsel in Zeiten des Umbruchs: Was bleibt von Willy Brandt und Helmut Schmidt?

Die Stiftung Pressemitteilung MM

(Berlin, 26. April 2024). Vor 50 Jahren tritt Kanzler Willy Brandt im Zuge der Spionageaffäre um Günter Guillaume zurück. Inflation, Rezession und Energiekrise bestimmen die Schlagzeilen. Von der Aufbruchstimmung nach den Wahlsiegen Willy Brandts 1969 und 1972 ist kaum mehr etwas zu spüren. Am 16. Mai 1974 wird Helmut Schmidt zum neuen Bundeskanzler gewählt. Krisenmanagement lautet damals das Gebot der Stunde – und heute? Die zweitägige Konferenz „Kanzlerwechsel 1974: Die Bundesrepublik zwischen Reformpolitik und Krisenmanagement“ blickt zurück auf die Ära der sozial-liberalen Koalitionen, fragt aber auch nach Lehren für die Gegenwart.

Die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung (BWBS) und die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung (BKHS) hatten in die Leibniz-Gemeinschaft nach Berlin eingeladen. Zwei wissenschaftliche Panels widmeten sich zunächst der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Finanz- und Wirtschaftspolitik unter Brandt und Schmidt. Dabei wurden auch Ergebnisse neuester historischer Quellenforschung präsentiert.

Damit ging die Tagung thematisch bewusst über die Dauerbrenner Ostpolitik und Deutschlandpolitik hinaus. Zwar kamen auch die beiden starken Persönlichkeiten Brandt und Schmidt zu ihrem Recht – in ihrem wechselseitigen Bezug aufeinander und in ihren jeweiligen Rollen als Kanzler, Minister oder SPD-Parteivorsitzender. Aber abseits der verführerischen Kraft der Personalisierung von Politik wurde auch klar: Ihr Handeln lässt sich ohne die unterschiedlichen Rahmenbedingungen ihrer Regierungszeiten nicht verstehen – egal, ob es nun um die globalen, europäischen oder innenpolitischen Entwicklungen geht.

Höhepunkt der Tagung war die Abendveranstaltung zum historischen Erbe der Kanzler Brandt und Schmidt. Nach einer Eröffnungsrede von Bundestagspräsident a. D. Wolfgang Thierse hielt der Augsburger Historiker Dietmar Süß die Keynote Speech, gefolgt von einer Podiumsdiskussion mit Bundesjustizministerin a. D. Herta Däubler-Gmelin, Publizist Albrecht von Lucke, der französischen Historikerin Hélène Miard-Delacroix und Deutschlandfunk-Journalist Korbinian Frenzel. Bundesfinanzminister a.D. Peer Steinbrück hielt das Schlusswort.

Vor restlos gefülltem Haus erinnerte der Kuratoriumsvorsitzende der Brandt-Stiftung, Wolfgang Thierse, an ein berühmtes Zitat des ersten SPD-Kanzlers: „Jede Zeit braucht ihre eigenen Antworten“. Brandt habe die Menschen mit seinem Versprechen „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ fasziniert. Schmidt sei „eher der nüchterne Realist und Macher, eben Krisenmanager“ gewesen, der richtige Mann für die schwierigen Zeiten „nach dem Boom“. Thierse hob auch die Bedeutung für die Menschen in der damaligen DDR hervor. Vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos habe Brandt 1970 „auch für die Ostdeutschen“ gekniet; in Erfurt sei er im selben Jahr als „Hoffnungsträger“ bejubelt worden.

Dass die Erinnerung an die beiden ersten SPD-Kanzler nicht frei von Verklärung und Stereotypen ist, betonte der Historiker Dietmar Süß in seinem Vortrag: „Es liegt so nahe, angesichts der so bedrückenden Herausforderungen unserer Zeit sehnsüchtig bei jenen weisen Männer aus den ‚guten‘, sozialdemokratischen Zeiten um Hilfe zu suchen.“ Aber: Die Etiketten des „Charismatikers“ auf der einen und des „Machers“ auf der anderen greife viel zu kurz. Außerdem wirkten die krisenhaften Entwicklungen auch vor und nach dem vermeintlich glatten Epochenbruch 1973/74:  Ölkrise, sinkendes Wirtschaftswachstum und steigende Arbeitslosigkeit nach dem Ende des Nachkriegsbooms. Auch die seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zunehmend kritisierte Neue Ostpolitik der Ära Brandt müsse sorgsam in ihrem historischen Kontext betrachtet werden. Damals sei es um die Rückkehr beider deutscher Staaten in die internationale Staatengemeinschaft gegangen, um Verlässlichkeit und Rückgewinnung von Vertrauen bei den Nachbarn und in der Welt. Wie schnell sich gesellschaftliche Bedürfnisse und Stimmungslagen jedoch ändern können, zeige auch Brandts Motto „Mehr Demokratie wagen!“ aus seiner Regierungserklärung vom Oktober 1969. Nur acht Jahre später erklärte er: „Heute wird von uns verlangt, dass wir überhaupt Demokratie wagen. Das scheint weniger, aber es ist in Wirklichkeit mehr“ – Sätze, die beinahe wie ein Kommentar aus unseren Tagen klingen. Bei der historisierenden Beschäftigung mit beiden Kanzlern müsse man „Rückprojektionen, Selbstdeutungen der Kanzler, historische Analyse und politisches Tagesgeschäft voneinander unterscheiden. Das ‚eine Erbe‘, das gibt es nicht“, so Süß in seiner Bilanz.

Die anschließende Podiumsdiskussion nahm den Kanzlerwechsel in den Blick, der damals als ein klarer gesellschaftspolitischer Bruch erlebt wurde. Aus heutiger Sicht sei aber auch erkennbar: Das konkrete Kriegserleben Brandts und Schmidts habe beide geprägt für die krisenhafte Zeit des Kalten Kriegs. Sie hätten aber anders als Bundeskanzler Olaf Scholz nicht in einem „heißen Krieg“ regieren müssen. Sich der Frage nach dem Erbe oder der Erblast der sozial-liberalen Regierungen zu stellen erfordere Mut. Bei Brandt, Schmidt und Scholz handele es sich um drei stark unterschiedliche Führungsfiguren, die zwar keinen direkten Vergleich zuließen – aber für anregende Gedankenspiele nebeneinanderstehen könnten.

Differenzierung und behutsame Abwägung forderte in seinem Schlusswort auch Peer Steinbrück ein, Kuratoriumsvorsitzender der Schmidt-Stiftung. Es gelte, „in kritischer Absicht nachzuvollziehen, wie aus den historischen Kanzlern die zum Teil monolithischen Bilder und Stereotype wurden“. Ein Auftrag beider Bundesstiftungen sei es, möglichst vielen Menschen historisches Wissen an die Hand zu geben, „um damit zu einem fundierten und abgewogenen Urteil zu kommen – und im Umkehrschluss die verlockend einfachen Lösungen von Populisten und Extremisten zu durchschauen und entsprechend zu handeln.“

 

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