Willy Brandts Kniefall vor dem Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos am 7. Dezember 1970. Links im Vordergrund ist der Arm und das Gewehr eines polnichen Soldaten zu sehen.
Photo: Bundesregierung/ Engelbert Reineke

Willy Brandts Kniefall und die Zeitenwende

Die Stiftung

Mit seinem Kniefall vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos setzte Willy Brandt 1970 ein Zeichen der Demut und Verantwortungsbereitschaft. 25 Jahre nach der Befreiung der NS-Konzentrationslager und dem Ende des Zweiten Weltkriegs war seine Geste in der deutschen Gesellschaft ebenso umstritten wie seine Entspannungspolitik gegenüber Osteuropa. Was sagen uns Brandts Kniefall und seine „Neue Ostpolitik“ heute, im Angesicht der „Zeitenwende“ und eines neuen Krieges in Europa?

Kalt und grau war es in Warschau, als Willy Brandt am 7. Dezember 1970 das Denkmal für die Helden des Aufstands im jüdischen Ghetto von 1943 besuchte. Nachdem der Bundeskanzler einen Kranz niedergelegt hatte, sank er auf die Knie. Mit gefalteten Händen verharrte er zwanzig Sekunden in dieser Position, bevor er sich mit einem Ruck wieder erhob. Das Foto dieses stillen Augenblicks ging um die Welt und in die Geschichte ein.

Der erste sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik war in die polnische Hauptstadt gereist, um den Warschauer Vertrag zu unterzeichnen – Teil der „Neuen Ostpolitik“ der 1969 gebildeten Regierung von SPD und FDP. 25 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und mitten im Kalten Krieg spaltete Brandts Entspannungspolitik die bundesdeutsche Gesellschaft. Sein Kniefall, damals hochumstritten, gilt heute als bedeutendes Symbol für die schwierige Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und für den Willen zur Verständigung mit Polen.

Unterzeichnung Warschauer Vertrag
Unterzeichnung des Warschauer Vertrags am 7. Dezember 1970. Foto: Bundesregierung/ Engelbert Reinecke

Die Neue Ostpolitik

Mit Brandts Wahl zum Bundeskanzler hatte ein außenpolitischer Richtungswechsel begonnen. Die von CDU-Kanzler Adenauer geprägte „Hallstein-Doktrin“, nach der die Bundesrepublik keine Beziehungen zu Staaten unterhielt, die die DDR anerkannten, wurde von der „Neuen Ostpolitik“ abgelöst. Unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ wollte die neue Regierung die schwierigen Beziehungen zu den kommunistisch regierten Staaten Osteuropas normalisieren, den Frieden durch eine Politik der Entspannung sichern und langfristig die Teilung des Kontinents überwinden.

Nachdem im August 1970 der „Moskauer Vertrag“ zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR geschlossen worden war, stand wenige Monate später die Unterzeichnung eines Abkommens mit Polen an. Kernstück des „Warschauer Vertrags“ war die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze des polnischen Staates. Damit bekannte sich die Bundesregierung zu einem Verzicht auf die ehemaligen deutschen Gebiete, die 1945 an Polen gefallen waren. Die Opposition aus CDU und CSU, aber auch die Vertriebenenverbände sahen in dieser Anerkennung des Status quo einen „Ausverkauf“ deutscher Interessen. Das Entgegenkommen gegenüber den Staaten des Ostblocks kritisierten sie als „Schützenhilfe“ für die dortigen Regierungen. Schon vor seiner Reise nach Warschau erhielt der seinerzeitige Kanzler anonyme Morddrohungen und Briefe, in denen das Abkommen mit Polen als „Schandvertrag“ bezeichnet wurde.

Um diese Vorbehalte zu entkräften, wandte sich Brandt aus Warschau an das heimische Fernsehpublikum: Beim deutsch-polnischen Vertrag gehe es „um den Beweis unserer Reife und um den Mut, die Wirklichkeit zu erkennen“. Mit den Ostverträgen werde nichts preisgegeben, was „nicht längst verspielt worden“ sei, nämlich „von einem verbrecherischen Regime, vom Nationalsozialismus“. Der damalige Kanzler erinnerte daran, dass dem polnischen Volk im Krieg „das Schlimmste zugefügt wurde, was es in seiner Geschichte hat durchmachen müssen“. Und er rief den Deutschen ins Gedächtnis, dass Polen der zentrale Schauplatz des Massenmords an den europäischen Juden gewesen war: „Namen wie Auschwitz werden beide Völker noch lange begleiten und uns daran erinnern, daß die Hölle auf Erden möglich ist; wir haben sie erlebt.“

Der Kniefall

Noch vor der Vertragsunterzeichnung besuchte Brandt am 7. Dezember 1970 nicht nur das Grabmal des Unbekannten Soldaten, sondern auf eigenen Wunsch auch den Platz der Helden des Ghettos. Dort, wo zeitweise bis zu 350.000 Jüdinnen und Juden auf drei Quadratkilometer hatten leben müssen, bevor sie in die Vernichtungsstätten deportiert wurden, erinnert ein Ehrenmal an den 1943 gescheiterten Aufstand der verbliebenen Bewohner. Geplant hatte Brandt seinen Kniefall nicht, aber gespürt, dass er an diesem besonderen Ort ein Zeichen setzen musste: „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Worte versagen.“

In der westdeutschen Öffentlichkeit stieß der Kniefall auf geteilte Reaktionen: Fast die Hälfte der Bundesbürger hielt die Geste Brandts laut einer Umfrage für „übertrieben“, nur 41 Prozent fand sie „angemessen“. In Leserbriefen an den Spiegel war von einem „Canossagang“ Brandts und von einem knieenden „deutschen Judas“ zu lesen. Ein selbstkritischer Umgang mit Schuld und Verantwortung war damals noch keine Selbstverständlichkeit.

Friedensnobelpreis_Willy Brandt, Aase Lionaes 1971
Willy Brandt bei der Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo am 10. Dezember 1971. Foto: Bundesregierung/Gräfingholt, Detlef

Der Weg zur Aussöhnung

Was der deutsche Überfall 1939 für Polen bedeutet hatte, davon war in den Reaktionen auf Brandts Kniefall kaum die Rede. Allein in den ersten Kriegswochen hatten Wehrmacht und SS Zehntausende Zivilisten getötet und Hunderte von Dörfern niedergebrannt. Mehr als sechs Millionen polnische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger verloren unter deutscher Besatzung ihr Leben, darunter drei Millionen Juden. Vor diesem Hintergrund war die Herstellung neuen Vertrauens zwischen Deutschen und Polen eine große Herausforderung. Entsprechend viel Aufmerksamkeit und Anerkennung erhielt Brandt weltweit für seine Geste, ebenso wie für seine Entspannungspolitik. Im Dezember 1971 wurde er dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Polen war ein Meilenstein im schwierigen Annäherungsprozess beider Länder. Dennoch markierte es nur den Auftakt zu einer Entwicklung, die erst nach den friedlichen Revolutionen in Polen und in der DDR sowie der Deutschen Einheit zu einer wirklichen Partnerschaft führen konnte. Der Grenzvertrag von 1990 und der Nachbarschaftsvertrag von 1991 legten die Oder-Neiße-Grenze endgültig fest. Mit der Osterweiterung von EU und NATO wurden neben Polen auch einige andere Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts Teil des westlichen Bündnissystems.

 

Das Brandenburger Tor am 24. Februar 2022, angestrahlt in den Nationalfarben der Ukraine. Im Vordergrund sind viele Menschen bei einer Solidaritätskundgebung für die Ukraine zu sehen,
Solidaritätskundgebung für die Ukraine vor dem Brandenburger Tor am 24. Februar 2022. Foto: Leonhard Lenz/CC0

Die Zeitenwende

Nach dem Ende des Kalten Krieges schien es für viele Jahre so, als sei ein friedliches Miteinander in Europa auf Dauer möglich. Doch schon der Kosovokrieg machte 1998/99 deutlich, dass die Losung „Nie wieder Krieg“ auch im Fall von Deutschland nicht gleichbedeutend sein konnte mit dem völligen Verzicht auf den Einsatz militärischer Mittel im Angesicht neuer Menschheitsverbrechen. In den Beziehungen mit Russland setzte die Bundesrepublik ebenso wie viele andere europäische Staaten auf enge wirtschaftliche Zusammenarbeit, von der man sich unter dem Stichwort „Wandel durch Handel“ auch politische Stabilität versprach. Obwohl seit den frühen Nullerjahren immer deutlicher wurde, dass die Regierung in Moskau eine autoritäre und imperialistische Politik verfolgte, wurde an dieser Strategie festgehalten – mit fatalen Folgen.

Die Illusion, dass der Frieden in Europa dauerhaft gesichert war, zerbrach mit dem Beginn der russischen Großinvasion in die Ukraine am 24. Februar 2022. Dabei hätte schon 2014, nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der Besetzung der Ostukraine durch Russland, vielen Akteuren klar sein müssen, wie wenig der Regierung in Moskau am Erhalt der europäischen Sicherheitsordnung gelegen war. Die „Zeitenwende“ hat viele Gewissheiten zerstört, mit denen die Nachkriegsgenerationen in Deutschland und Europa aufgewachsen waren. Die deutsche Gesellschaft und mit ihr die Bundeswehr steht vor der großen Herausforderung, diesen veränderten Realitäten gerecht zu werden.

Seit dem Beginn der Zeitenwende wird Willy Brandt gerne von jenen als Vorbild herangezogen, die die politische und militärische Unterstützung der Ukraine ablehnen: Würden wir uns an seiner Entspannungspolitik orientieren, so argumentieren sie, wären längst Wege zu Friedensverhandlungen gefunden worden. Dieser Interpretation seines Vermächtnisses würde Brandt ganz sicher nicht zustimmen: Er war kein bedingungsloser Pazifist, so sehr er es ihm auch um die Sicherung des Friedens ging. Zur Verteidigung der Freiheit und des Selbstbestimmungsrechts einer Nation hielt er den Einsatz von Waffengewalt grundsätzlich für legitim. Die Ausgaben für das Militär beliefen sich in seiner Amtszeit auf drei bis vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, dass Bemühungen um Entspannung stets mit militärischer Verteidigungsfähigkeit Hand in Hand gehen mussten. Und was auch nicht vergessen werden darf: Die Sowjetunion war zwar ein diktatorisches Regime, aber der Regierung in Moskau ging es zur Zeit der Neuen Ostpolitik um eine Konsolidierung des Status quo, und nicht, wie der heutigen Regierung im Kreml, um eine völkerrechtswidrige Ausdehnung ihres Territoriums.

Lehren für die Gegenwart

80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und bald 55 Jahre nach Willy Brandts historischem Kniefall steht Deutschland vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits darf sich unsere Geschichts- und Erinnerungspolitik nicht in Ritualen erschöpfen, mit denen sich jüngere Menschen ohne Bezug zu den damaligen Ereignissen nicht mehr identifizieren können. Gefragt ist eine historisch-politische Bildung, die Wissen über die deutschen Verbrechen während der NS-Zeit vermittelt – erst recht in Zeiten eines erstarkenden Rechtsextremismus, der die Verbrechen des Nationalsozialismus verharmlost. Andererseits reicht es nicht mehr, die Losung „Nie wieder Krieg“ als Appell zur militärischen Zurückhaltung Deutschlands zu verstehen: Eine wehrhafte Demokratie – nach innen und nach außen – braucht nicht nur ein kritisches Geschichtsbewusstsein, sondern auch die Fähigkeit zur Verteidigung. Historische Verantwortung bedeutet auch, gegen neue autoritäre und diktatorische Regime Stellung zu beziehen. Das hätte auch Willy Brandt so gesehen.

Dieser Artikel erschien am 1. Juli 2025 unter dem Titel „Kniefall der Geschichte“ im Magazin „IF – Zeitschrift für Innere Führung” 2 25, S. 50-53.
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Dr. Kristina Meyer

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

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