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50 Jahre „Radikalenerlass“

Die Stiftung

In die Zeit zwischen Willy Brandts Vereidigung als Bundeskanzler im Herbst 1969 und seinem Rücktritt im Frühjahr 1974 fielen zahlreiche außenpolitische Wegmarken und innenpolitische Reformen, an die viele Mitlebende jener Auf- und Umbruchsjahre mit positiven oder gar nostalgischen Gefühlen zurückdenken. Positive Erinnerungen und Gefühle weckt der Jahrestag des sogenannten „Radikalenerlasses“ vom 28. Januar 1972 aber wohl bei den wenigsten, denn er gilt bis heute als eine der umstrittensten Maßnahmen aus der Regierungszeit der sozial-liberalen Koalition. Mit ihrem Beschluss wollten Bundeskanzler Brandt und die Ministerpräsidenten der Länder den Eintritt von politischen Extremisten in den öffentlichen Dienst verhindern. Sämtliche Bewerberinnen und Bewerber, aber auch bereits Eingestellte wurden fortan durch eine individuelle Regelanfrage beim Verfassungsschutz dahingehend überprüft, ob ihre politischen Aktivitäten und Mitgliedschaften auf eine verfassungsfeindliche Einstellung schließen ließen. Auch wenn der ursprüngliche Beschluss auf links- und rechtsradikale „Verfassungsfeinde“ gleichermaßen zielte, waren in den siebziger und achtziger Jahren jedoch vor allem Mitglieder der 1968 neu gegründeten DKP und anderer linker Organisationen von den Folgen jener Maßnahme betroffen, die für viele einem Berufsverbot gleichkam.

Willy Brandt bezeichnete den „Radikalenerlass“ schon wenige Jahre später als „Irrtum“. Er wies aber auch auf einen bis heute selten thematisierten Hintergrund der Entscheidung hin: Ohne die Neue Ostpolitik und die innenpolitische „Schlacht, die um sie geführt wurde“, sei der Beschluss nicht zu verstehen, so Brandt 1989. War die Maßnahme also auch ein Versuch, den heftigen innenpolitischen Streit über die sozial-liberale Politik der Verständigung mit den kommunistischen Staaten Osteuropas durch eine Maßnahme zur Extremistenabwehr im eigenen Land zu entschärfen? Aber auch die Langzeitwirkung und Gegenwartsrelevanz des Beschlusses von 1972 möchten wir in den Blick nehmen: Welche Folgen zeitigte der „Radikalenerlass“ für den Umgang des Staates mit „Verfassungsfeinden“ von links und rechts, für die Bereitschaft zu politischem Engagement in der Gesellschaft, aber auch für das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland? Wie hat sich der „Radikalenerlass“ auf das berufliche Fortkommen und die soziale Lage derjenigen ausgewirkt, die von ihm konkret betroffen waren – und wie kann und sollte ihren Forderungen nach Rehabilitierung und Entschädigung heute Rechnung getragen werden? Was hatte der „Extremistenbeschluss“ eigentlich mit der unzureichend „bewältigten“ NS-Vergangenheit zu tun? Und nicht zuletzt: Wie stellt sich das Für und Wider eines solchen „Radikalenerlasses“ heute dar, im Lichte der Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz und der möglichen Auswirkungen dieser Entscheidung auf den Verbleib von Mitgliedern der Partei ebenso wie von Angehörigen bereits gänzlich als rechtsextrem geltender Organisationen im öffentlichen Dienst?

Diesem Thema widmete sich unsere Podiumsdiskussion 50 Jahre „Radikalenerlass“ – Geschichte und Aktualität einer umstrittenen Maßnahme vom 20. Januar 2022 mit Dominik Rigoll, Alexandra Jaeger, Liane Bednarz, Helge Lindh, Dorothea Vogt und Korbinian Frenzel. Die Aufzeichnung der Veranstaltung können Sie jederzeit auf dem YouTube-Kanal der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung ansehen.

Darüber hinaus möchten wir Ihnen zwei Artikel unserer Podiumsgäste ans Herz legen: Unter Generalverdacht von Dominik Rigoll in der ZEIT vom 13.1.2022 (DIE ZEIT Nr. 3/2022, 13. Januar 2022) und 50 Jahre Radikalenbeschluss: Als Willy Brandt irrte von Alexandra Jaeger im Vorwärts vom 28.1.2022.

Außerdem möchten wir Ihnen die Dokumentation Jagd auf Verfassungsfeinde – Der Radikalenerlass und seine Opfer (Erstausstrahlung: 17.1.2022, Das Erste), die auch mehrfach Erwähnung in unserer Diskussionsveranstaltung fand, empfehlen.

Veranstaltung: 50 Jahre „Radikalenerlass“ – Geschichte und Aktualität einer umstrittenen Maßnahme vom 20. Januar 2022 mit Dominik Rigoll, Alexandra Jaeger, Liane Bednarz, Helge Lindh, Dorothea Vogt und Korbinian Frenzel.
Veranstaltung als Podcast: 50 Jahre „Radikalenerlass“ – Geschichte und Aktualität einer umstrittenen Maßnahme vom 20. Januar 2022 mit Dominik Rigoll, Alexandra Jaeger, Liane Bednarz, Helge Lindh, Dorothea Vogt und Korbinian Frenzel.

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