Startseite / Aktuelles / Neuigkeiten / Eine Wegmarke der neuen Ost- und Deutschlandpolitik Eine Wegmarke der neuen Ost- und Deutschlandpolitik Das Gipfeltreffen von Erfurt am 19. März 1970 (Wolfgang Schmidt) Stiftung Icon Die Stiftung Veröffentlicht: 19. März 2020 Am 19. März 2020 ist es genau 50 Jahre her, dass Willy Brandt von Bonn aus in einem Sonderzug über die innerdeutsche Grenze nach Erfurt fuhr. Zum ersten Mal reiste damit ein Kanzler der Bundesrepublik Deutschland in die DDR, in den vom kommunistischen SED-Regime unter Walter Ulbricht beherrschten zweiten deutschen Staat. Brandts Reise nach „drüben“ und seine Begegnung mit DDR-Ministerpräsident Willi Stoph stellten damals eine politische Sensation dar. Für die Menschen im seit 1945 geteilten Deutschland war es ein historisches Ereignis, das noch wenige Monate zuvor unvorstellbar schien. Denn bis dahin war die DDR für die Bundesrepublik offiziell gar nicht existent. Möglich wurde das Gipfeltreffen von Erfurt durch die neue Ost- und Deutschlandpolitik, die sich Willy Brandt und die von ihm geführte Koalition von SPD und FDP auf die Fahnen geschrieben hatten. In seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler betonte Brandt am 28. Oktober 1969 im Bundestag in Bonn: Die Bundesrepublik und das deutsche Volk bräuchten nicht nur „die Zusammenarbeit und Abstimmung mit dem Westen“, sondern auch die Verständigung und den Frieden „mit den Völkern der Sowjetunion und allen Völkern des europäischen Ostens“. Im Verhältnis zur DDR schlug Brandt ebenfalls ein neues Kapitel auf: „Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein.“ Damit erkannte erstmals eine Bundesregierung an, dass es den Staat DDR gab. Dessen völkerrechtliche Anerkennung durch die Bundesrepublik schloss der Bundeskanzler aber nach wie vor aus. Aufgabe der praktischen Politik der nächsten Jahre sei es, so Brandt, „das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung“ zu lösen, um die „Einheit der deutschen Nation“ zu wahren und ihr weiteres Auseinanderleben zu verhindern. Er bot der DDR Verhandlungen „beiderseits ohne Diskriminierung auf der Ebene der Regierungen an, die zu vertraglich vereinbarter Zusammenarbeit führen“ sollten. Sein Ziel lautete, „über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen“. Doch der Dialog zwischen Bonn und Ost-Berlin kam nur sehr mühsam in Gang. Am 17. Dezember 1969 wandte sich der DDR-Staatsratsvorsitzende und SED-Chef Walter Ulbricht mit einem Schreiben an Bundespräsident Gustav Heinemann und schlug ihm die Aufnahme „gleichberechtigter völkerrechtlicher Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten“ vor. Ohne auf Ulbrichts Vorstoß einzugehen, schrieb Brandt am 22. Januar 1970 einen Brief an DDR-Ministerpräsident Stoph und warb darin für Verhandlungen über einen Gewaltverzicht sowie über Regelungen, „die das Leben der Menschen im gespaltenen Deutschland erleichtern können“. In seiner Antwort vom 11. Februar 1970 forderte Stoph indes erneut die völkerrechtliche Anerkennung der DDR. Zugleich schlug er ein Treffen der beiden Regierungschefs in Ost-Berlin vor, das noch im Februar stattfinden sollte. Eine Woche später erklärte sich Brandt zu einer Begegnung mit Stoph für Mitte März bereit, wenn keine Vorbedingungen gestellt würden. Zudem sollte es nach den Vorstellungen des Kanzlers ein zweites Treffen in Bonn geben. Erst auf Druck der Sowjetunion lenkte das SED-Regime ein. Am 24. Februar 1970 ließ Ulbricht davon ab, das Zustandekommen eines deutsch-deutschen Gipfels von der vorherigen völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik abhängig zu machen. Weil Brandt aber darauf beharrte, über West-Berlin nach Ost-Berlin zu kommen, was die DDR als Provokation bezeichnete, zogen sich die Beratungen über die technischen und protokollarischen Einzelheiten hin. Erst am 12. März 1970 einigten sich beide Seiten auf Ort und Termin des Treffens: Erfurt, 19. März 1970. > Video-Ausschnitt aus der Wochenschau zum Erfurter Gipfeltreffen Die erste Begegnung zwischen Stoph und Brandt verlief in angespannter Atmosphäre. Erwartungsgemäß war das Ergebnis ihrer Gespräche sehr mager. Es gab keine Annäherung in den Grundsatzfragen. Der DDR-Ministerpräsident forderte die Aufnahme völkerrechtlicher Beziehungen, der Bundeskanzler lehnte dies ab und drängte auf Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland. Einig waren sich beide nur darin, dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen solle. Immerhin vereinbarte man auch ein zweites Treffen in der Bundesrepublik, das im Mai in Kassel stattfinden sollte. Die Bedeutung von „Erfurt“ und die langfristigen Wirkungen, die von diesem Tag ausgingen, waren und sind dennoch nicht zu unterschätzen. Einerseits verhandelten die Regierungschefs der beiden deutschen Staaten auf Augenhöhe miteinander. Diese amtliche Tatsache symbolisierte Gleichberechtigung. Andererseits wurde auf einer ganz anderen Ebene am 19. März 1970 ungeplant sehr deutlich, was die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in der DDR – der hohlen SED-Propaganda zum Trotz – fühlte und dachte. Schon entlang der Bahnstrecke nach Erfurt winkten viele dem Zug des Kanzlers zu, den diese Sympathiebekundungen ebenso wie seine Begleiter emotional tief berührten. In der Stadt durchbrachen dann Tausende die Absperrungen am Bahnhofsvorplatz vor dem Tagungshotel „Erfurter Hof“ und riefen „Willy Brandt ans Fenster“. Brandt zeigte sich der Menge, die ihm zujubelte und deren Wünsche er gut verstand. „Ich war bewegt und ahnte, dass es ein Volk mit mir war. Wie stark musste das Gefühl der Zusammengehörigkeit sein, das sich auf diese Weise entlud!“, schrieb er später. Erfurt setzte 1970 ein weithin sichtbares Zeichen für die Einheit der Deutschen, die 20 Jahre später tatsächlich wiedererlangt wurde. Wolfgang Schmidt, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung Weitere Neuigkeiten