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Ohne Annäherung in die Denkpause

Die Stiftung

Gut zwei Monate nach ihrer ersten Begegnung in Erfurt kamen am 21. Mai 1970 Bundes­kanzler Willy Brandt und DDR-Ministerpräsident Willi Stoph im Schlosshotel in Kassel zu einem zweiten Treffen zusammen. Stophs Gegenbesuch in der Bundesrepublik weckte in Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit heftige Emotionen. Straßendemonstrationen gegen, aber auch für den Gast aus Ost-Berlin und das von ihm repräsentierte Regime begleiteten die Regierungsgespräche.

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Herzlich willkommen geheißen wurde Stoph von einigen hundert Mitgliedern und Anhän­gern der westdeutschen DKP, die rote Fahnen schwenkten und kommunistische Spruch­bänder hochhielten. Ihnen gegenüber standen vor allem rechtsgerichtete Krawallmacher, die den Ablauf des Treffens erheblich störten, das dadurch kurz vor dem Abbruch stand. So rissen drei Rechtsextremisten vormittags die vor dem Tagungshotel gehisste Fahne der DDR vom Mast. Nachmittags machten es gewalttägige Ausschreitungen zwischen rechten und linken Demonstranten für Stoph dann unmöglich, wie geplant im Fürstengarten auf dem Weinberg einen Kranz am Ehrenmal für die Opfer des Faschismus niederzulegen. Die Zere­monie konnte schließlich am Abend doch noch stattfinden. Allerdings entfernten Unbekann­te in der Nacht die Schleifen vom Kranz.

Während draußen eine aufgeheizte Stimmung herrschte, prallten am Verhandlungstisch die gegensätzlichen Positionen der Regierungen unverändert und hart aufeinander. In einem 20-Punkte-Katalog, der die Einheit der deutschen Nation betonte, bot Bundeskanzler Brandt der DDR einen Vertrag zur Regelung der staatlichen Beziehungen unterhalb der völkerrecht­lichen Anerkennung an. Zudem machte er Vorschläge für Verbesserungen im Reiseverkehr, für Familienzusammenführungen und zur Zusammenarbeit in Verkehrsfragen, in Bildung und Wissenschaft, Erziehung und Kultur sowie Umwelt und Sport. Vor einer Regelung der ge­meinsamen Aufnahme der beiden deutschen Staaten in internationale Organisationen, insbesondere in die Vereinten Nationen, die für die DDR ganz oben auf der Agenda stand, müssten jedoch erst Fortschritte in den beiderseitigen Beziehungen erzielt sein, so Brandt.

Davon unbeeindruckt blieb der DDR-Ministerpräsident bei seinen schon in Erfurt erhobenen Maximalforderungen. Weder die „Existenz zweier Staaten einer Nation“ noch das „Fortbe­stehen der Vier-Mächte-Verantwortung für Berlin“ waren für Stoph akzeptabel. Er beharr­te auf der vollständigen völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik. Die Unterredungen in Kassel endeten daher, ohne dass eine gemeinsame Schlusserklärung abgege­ben und ein weiteres Treffen vereinbart wurde. Um die Fortsetzung des innerdeut­schen Dialogs nicht unmöglich zu machen, verständigte man sich aber auf Anregung Stophs darauf, eine „Denkpause“ einzulegen. Sie dauerte bis November 1970, ehe die Unter­händler der beiden Regierungen, Egon Bahr und Michael Kohl, Gespräche miteinander aufnahmen.

Auf deutsch-deutscher Ebene wurden wirkliche Fortschritte erst möglich, nachdem die Bundesrepublik im August 1970 den Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion und im Dezem­ber 1970 den Warschauer Vertrag mit Polen vereinbart und die Vier Mächte im September 1971 das Berlin-Abkommen unterzeichnet hatten. Daraufhin schlossen die beiden deutschen Staaten im Dezember 1971 das Transitabkommen, im Mai 1972 den Verkehrsvertrag und im Dezember 1972 den Grundlagenvertrag.

 

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