Key-Visual Konferenz
Foto: BWBS

Kanzlerwechsel 1974 – Die Bundesrepublik zwischen Reformpolitik und Krisenmanagement

Vor 50 Jahren tritt Kanzler Willy Brandt im Zuge der Spionageaffäre um Günter Guillaume zurück. Inflation, Rezession und Energiekrise bestimmen die Schlagzeilen. Von der Aufbruchstimmung nach den Wahlsiegen Willy Brandts 1969 und 1972 ist kaum mehr etwas zu spüren. Am 16. Mai 1974 wird Helmut Schmidt zum neuen Bundeskanzler gewählt. Krisenmanagement lautet damals das Gebot der Stunde – und heute? Die zweitägige Konferenz „Kanzlerwechsel 1974: Die Bundesrepublik zwischen Reformpolitik und Krisenmanagement“ blickt zurück auf die Ära der sozial-liberalen Koalitionen, fragt aber auch nach Lehren für die Gegenwart.

Damit ging die Tagung thematisch bewusst über die Dauerbrenner Ostpolitik und Deutschlandpolitik hinaus. Zwar kamen auch die beiden starken Persönlichkeiten Brandt und Schmidt zu ihrem Recht – in ihrem wechselseitigen Bezug aufeinander und in ihren jeweiligen Rollen als Kanzler, Minister oder SPD-Parteivorsitzender. Aber abseits der verführerischen Kraft der Personalisierung von Politik wurde auch klar: Ihr Handeln lässt sich ohne die unterschiedlichen Rahmenbedingungen ihrer Regierungszeiten nicht verstehen – egal, ob es nun um die globalen, europäischen oder innenpolitischen Entwicklungen geht

Im Feld der Außen- und Sicherheitspolitik arbeiteten die Vorträge die Rolle der Bundesrepublik als führende Wirtschaftsmacht und das damit verbundene steigende Selbstbewusstsein heraus, das beide Kanzler auf je ihre Weise vertraten. Brandt und Schmidt betrieben aktiv eine Politik der westeuropäischen Integration; die Basis dafür war die enge transatlantische Partnerschaft mit den USA – ein Element, das sich auch heute in der Politik von Olaf Scholz wiederfinde. In Sachen Europapolitik hätten es beide Regierungschefs allerdings versäumt, die Diskussion in die Gesellschaft hinein zu öffnen. Die „Neue Ostpolitik“ wird zwar bis heute mit Brandt verbunden, aber auch Schmidt unterstützte diesen Entspannungskurs von Beginn an vorbehaltlos. Nach dem Kanzlerwechsel rückte die Ostpolitik etwas in den Hintergrund: Schmidt priorisierte wirtschafts- und finanzpolitische Themen und Probleme, erst recht im Angesicht der vielfältigen Krisenszenarien.

Auf europäischer Ebene trieben beide Kanzler die Vorbereitung eines gemeinsamen Währungssystems voran, in ihrer Politik gegenüber den USA ordneten sie handelspolitische Belange den strategischen Zielen unter. Sowohl die „Neue Ostpolitik“ als auch die „Nord-Süd-Politik“ seien als „Suchbewegungen“ nach einer neuen Rolle der Bundesrepublik innerhalb der Nachkriegsordnung zu verstehen. Vor allem Helmut Schmidt betrachtete die Entwicklungszusammenarbeit zugleich als aktive Handelspolitik. Eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“, wie sie von Staaten des Globalen Südens seit den 1960er-Jahren gefordert wurde, lehnte er ab und setzte stattdessen auf Reformen des Systems. Willy Brandt dagegen stellte seit Mitte der 1970er-Jahre den Begriff der Marktwirtschaft vorsichtig in Frage. Dass nach dem Ende der „Wirtschaftswunderjahre“ der Glaube an den Keynesianismus und damit an eine Globalsteuerung tatsächlich an ihr Ende kam, wurde in den Diskussionen skeptisch beurteilt: Dass eine Politik à la Keynes weiterhin ein beliebtes Instrument blieb, zeigten nicht zuletzt die sozialpolitischen Hilfspakete der Regierung Kohl Mitte der 1980er-Jahre oder auch die jüngsten Corona-Maßnahmen.

Auf der gesellschaftspolitischen Ebene ging es am zweiten Tag um die Reformvorhaben der sozial-liberalen Koalition unter Schmidt und Brandt. In der Geschlechterpolitik zeigten weder Brandt noch Schmidt besonderen Reformeifer, dennoch konnte die organisierte Frauenbewegung inner- und außerhalb der SPD Fortschritte erzielen, auch wenn diese von Seiten der konservativen Opposition oder den Kirchen hart umkämpft war. Die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland und solle auch keines werden, so Helmut Schmidt in einer Kabinettssitzung Ende der 1970er-Jahre. Der Anwerbestopp von kurz vor dem Kanzlerwechsel wurde von Schmidt verlängert, hinzu kamen Maßnahmen, die die Rückkehr in Deutschland lebender „Ausländer“ forcierten. Beide Kanzler vertraten eine Politik, die nicht an einer (dauerhaften) Integration von Migrant*innen interessiert war. Dahinter steckten Konzepte einer „ethnonationalen“ Identität, die insbesondere in der Bundesrepublik lebende Türkinnen und Türken ausschließlich auf Zeit dulden wollte. War es Kanzler Willy Brandt noch gelungen, junge Menschen aus dem Linken Spektrum in großer Zahl in die SPD zu integrieren, so sah Helmut Schmidt darin keine Priorität. Zwischen ihm und den Neuen Sozialen Bewegungen herrschte ein tiefes gegenseitiges Unverständnis. Dies führte langfristig zur Etablierung der Grünen als parlamentarische Kraft, was letztlich zu seiner Stabilisierung der bundesdeutschen Demokratie beitrug. Insofern bildete der Kanzlerwechsel auf diesem Feld keine Zäsur, sondern einen Katalysator der Verhältnisse.

Höhepunkt der Tagung war die Abendveranstaltung zum historischen Erbe der Kanzler Brandt und Schmidt. Nach einer Eröffnungsrede von Bundestagspräsident a. D. Wolfgang Thierse hielt der Augsburger Historiker Dietmar Süß die Keynote Speech, gefolgt von einer Podiumsdiskussion mit Bundesjustizministerin a. D. Herta Däubler-Gmelin, Publizist Albrecht von Lucke, der französischen Historikerin Hélène Miard-Delacroix und Deutschlandfunk-Journalist Korbinian Frenzel. Bundesfinanzminister a.D. Peer Steinbrück hielt das Schlusswort.

Vor restlos gefülltem Haus erinnerte der Kuratoriumsvorsitzende der Brandt-Stiftung, Wolfgang Thierse, an ein berühmtes Zitat des ersten SPD-Kanzlers: „Jede Zeit braucht ihre eigenen Antworten“. Brandt habe die Menschen mit seinem Versprechen „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ fasziniert. Schmidt sei „eher der nüchterne Realist und Macher, eben Krisenmanager“ gewesen, der richtige Mann für die schwierigen Zeiten „nach dem Boom“. Thierse hob auch die Bedeutung für die Menschen in der damaligen DDR hervor. Vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos habe Brandt 1970 „auch für die Ostdeutschen“ gekniet; in Erfurt sei er im selben Jahr als „Hoffnungsträger“ bejubelt worden.

Dass die Erinnerung an die beiden ersten SPD-Kanzler nicht frei von Verklärung und Stereotypen ist, betonte der Historiker Dietmar Süß in seinem Vortrag: „Es liegt so nahe, angesichts der so bedrückenden Herausforderungen unserer Zeit sehnsüchtig bei jenen weisen Männer aus den ‚guten‘, sozialdemokratischen Zeiten um Hilfe zu suchen.“ Aber: Die Etiketten des „Charismatikers“ auf der einen und des „Machers“ auf der anderen greife viel zu kurz. Außerdem wirkten die krisenhaften Entwicklungen auch vor und nach dem vermeintlich glatten Epochenbruch 1973/74:  Ölkrise, sinkendes Wirtschaftswachstum und steigende Arbeitslosigkeit nach dem Ende des Nachkriegsbooms. Auch die seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zunehmend kritisierte Neue Ostpolitik der Ära Brandt müsse sorgsam in ihrem historischen Kontext betrachtet werden. Damals sei es um die Rückkehr beider deutscher Staaten in die internationale Staatengemeinschaft gegangen, um Verlässlichkeit und Rückgewinnung von Vertrauen bei den Nachbarn und in der Welt. Wie schnell sich gesellschaftliche Bedürfnisse und Stimmungslagen jedoch ändern können, zeige auch Brandts Motto „Mehr Demokratie wagen!“ aus seiner Regierungserklärung vom Oktober 1969. Nur acht Jahre später erklärte er: „Heute wird von uns verlangt, dass wir überhaupt Demokratie wagen. Das scheint weniger, aber es ist in Wirklichkeit mehr“ – Sätze, die beinahe wie ein Kommentar aus unseren Tagen klingen. Bei der historisierenden Beschäftigung mit beiden Kanzlern müsse man „Rückprojektionen, Selbstdeutungen der Kanzler, historische Analyse und politisches Tagesgeschäft voneinander unterscheiden. Das ‚eine Erbe‘, das gibt es nicht“, so Süß in seiner Bilanz.

Die anschließende Podiumsdiskussion nahm den Kanzlerwechsel in den Blick, der damals als ein klarer gesellschaftspolitischer Bruch erlebt wurde. Aus heutiger Sicht sei aber auch erkennbar: Das konkrete Kriegserleben Brandts und Schmidts habe beide geprägt für die krisenhafte Zeit des Kalten Kriegs. Sie hätten aber anders als Bundeskanzler Olaf Scholz nicht in einem „heißen Krieg“ regieren müssen. Sich der Frage nach dem Erbe oder der Erblast der sozial-liberalen Regierungen zu stellen erfordere Mut. Bei Brandt, Schmidt und Scholz handele es sich um drei stark unterschiedliche Führungsfiguren, die zwar keinen direkten Vergleich zuließen – aber für anregende Gedankenspiele nebeneinanderstehen könnten.

Differenzierung und behutsame Abwägung forderte in seinem Schlusswort auch Peer Steinbrück ein, Kuratoriumsvorsitzender der Schmidt-Stiftung. Es gelte, „in kritischer Absicht nachzuvollziehen, wie aus den historischen Kanzlern die zum Teil monolithischen Bilder und Stereotype wurden“. Ein Auftrag beider Bundesstiftungen sei es, möglichst vielen Menschen historisches Wissen an die Hand zu geben, „um damit zu einem fundierten und abgewogenen Urteil zu kommen – und im Umkehrschluss die verlockend einfachen Lösungen von Populisten und Extremisten zu durchschauen und entsprechend zu handeln.“

Alle Veranstaltungen der Konferenz stehen als Video-on-Demand auf dem »YouTube-Kanal der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung sowie demnächst auch als Podcasts  zur Verfügung.

Für Fragen zum Programm der Tagung, Kontakt zu den Vortragenden steht Kristina Meyer unter zur Verfügung. Presseanfragen beantwortet Malte Mau unter .

»Download Tagungsprogramm
»Download Pressebilder
»Zur Pressemitteilung (26. April)

Historische Einordung:
»Die Guillaume-Affäre und der Rücktritt von Willy Brandt (Kristina Meyer)
»Spionage-Affäre löst Kanzlerwechsel aus (Magnus Koch)

Kanzlerwechsel 1974 - Konferenzprogramm (pdf)

Download pdf 158,56 kB