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Willy Brandts Ostpolitik: Schlüssel zur deutschen Einheit oder Ursünde der Russlandpolitik?

„Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ So lautet das berühmte Marx-Zitat, das immer wieder hervorgekramt wird. Mir scheint, man kann es auch auf die Ostpolitik münzen. Vor fünfzig, fünfundfünfzig Jahren spaltete Willy Brandts Ostpolitik die westdeutsche Öffentlichkeit. Seit etwa zehn Jahren, seit der russischen Annexion der Krim, und noch mehr seit dem 24. Februar 2022 wiederholt sich der Streit als Farce. Der Duden definiert eine Farce als Karikatur oder Verhöhnung eines Geschehens. Das trifft den Kern dessen, was wir in den letzten Jahren beobachten konnten. Es gab viel Meinung über die Ostpolitik, aber wenig Kenntnis.

Willy Brandt musste für ganz gegensätzliche Positionen als Berufungsinstanz herhalten. Mit dem scheinbar treffendsten Zitat versuchten die unterschiedlichen Lager, sich als die Urenkel Brandts darzustellen. Aus der Geschichte wissen wir, dass der Zitatenstreit Kennzeichen von Dogmenkämpfen ist, aber sehr wenig mit der Realität zu tun hat.

Mit Zitaten kommt man auch nicht dem Ziel näher, die Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr zu verstehen. Man muss sie historisieren, sie auf ihre Essenz hin befragen und dabei beachten, dass die konkrete Ausprägung des ostpolitischen Konzepts, das Brandt und Bahr entwickelten, von den jeweiligen Zeitumständen abhing. „Jede Zeit will eigene Antworten“ war nicht nur eine Mahnung Brandts an die Nachgeborenen, sondern ist auch der Schlüssel, um die scheinbar widersprüchlichen Äußerungen von beiden über die Jahrzehnte hinweg zu verstehen.

Was war nun die Ostpolitik?

Häufig wird sie als Reaktion auf den Bau der Mauer beschrieben. Die Abriegelung Westberlins durch die DDR habe gezeigt, dass die bisherige Politik in eine Sackgasse geführt habe; die Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937 war nicht näher gerückt, stattdessen hatte sich die Teilung Deutschlands immer weiter vertieft. Brandt selbst hat davon gesprochen, der 13. August 1961 sei der Tag gewesen, an dem der Vorhang aufgegangen sei und eine leere Bühne gezeigt habe.1

Gänzlich leer aber war die Bühne nicht. Daran hatte Brandt selbst einen wesentlichen Anteil. Die Neue Ostpolitik war nicht nur die Reaktion auf Not (die Mauer) und Bedrohung (das Risiko eines Atomkriegs), sondern auch die Antwort auf ein Angebot, das von Nikita Chruschtschow, damals Chef der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, formuliert worden war. Chruschtschow sprach in Anlehnung an Lenin von einer friedlichen Koexistenz zwischen dem Kommunismus und dem Kapitalismus.

Das Angebot der Sowjetunion für eine friedliche Koexistenz war aber an eine Bedingung geknüpft: Bonn musste den territorialen Status quo, die Nachkriegsgrenzen in Europa, anerkennen. Das war bisher nicht der Fall gewesen, die Bundesrepublik war im Gegenteil in den Fünfziger- und Sechzigerjahren der einzige Staat in Europa, der die Grenzen revidieren wollte: die nach Osten gegenüber Polen, die Oder-Neiße-Grenze also, und die Grenze zur DDR. Beides, so Bonn, wolle man auf friedlichem Wege erstreben, aber der Glaube an die Friedfertigkeit dieser Absichten saß in Osteuropa und in der Sowjetunion nicht sehr tief, und dies nicht nur unter den politischen Eliten.

Bereits 1955 sagte Willy Brandt „ja zur Koexistenz, wenn sie Entspannung bedeutet“. Koexistenz dürfe aber nicht gleichgesetzt werden mit „geistiger Neutralität“. Zugleich – und das war zukunftsweisend – zeigte er sich bereit, die polnische Westgrenze anzuerkennen. Man muss sich daran erinnern, dass die Oder-Neiße-Grenze 1955 in der BRD noch ein Tabu war. Dennoch äußerte sich Brandt wenig verklausuliert, als er sagte: „Realpolitisch“ gehe es „um die Wiedervereinigung der deutschen Menschen, wo sie heute leben.“ Dieser Satz war fortan eine der Standardformulierungen von Brandt. Anders und klarer gesagt hieß dies: Es geht nur um den Zusammenschluss von BRD und DDR.

Nicht „friedliche Koexistenz“ ist die rhetorische Formel, die am häufigsten mit der Neuen Ostpolitik assoziiert wird, sondern „Wandel durch Annäherung“. Der „Wandel durch Annäherung“, so die von Bahr geprägte, von Brandt aber wegen ihrer Missdeutbarkeit nie verwendete Formel, sollte nicht auf beiden Seiten, sondern nur im Osten erfolgen. Der Wandel im Osten, davon gingen Brandt und Bahr aus, würde sehr langsam voranschreiten und müsse von innen kommen. Dies war die Lehre aus den Interventionen der Roten Armee 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn, wo jeweils mit militärischer Gewalt antikommunistische, freiheitliche Aufstände niedergeschlagen worden waren. 1977 bekräftigte Willy Brandt dies: „Die Politik der Entspannung ist […] nicht entwickelt […] worden als eine Strategie zur Abschaffung kommunistischer Regime.“ Das war nicht Ausdruck einer Naivität gegenüber Moskau, wie heute manchmal behauptet wird, sondern einer realistischen Einschätzung der Kräfteverhältnisse.

Nach Jahren der gedanklichen Vorbereitung ermöglichte der Wahlsieg von SPD und FDP im September 1969 die praktische Implementierung der Ostpolitik. Mehrere externe Entwicklungen kamen zu Hilfe. Die USA waren schon seit der Präsidentschaft von John F. Kennedy an einer Détente mit der Sowjetunion interessiert, um die Gefahr eines Atomkriegs zu bannen. Die Kuba-Krise im Oktober 1962 hatte drastisch vor Augen geführt, wie groß diese Gefahr war. Ende der 1960er verstärkte sich das Interesse der Vereinigten Staaten an besseren Beziehungen zur Sowjetunion noch einmal, denn der Vietnam-Krieg führte zu enormen Belastungen und schwächte die Hegemonie der USA. Die UdSSR ihrerseits hatte durch die Intervention in der Tschechoslowakei am 21. August 1968 ihren Block wieder fest im Griff. Aus gesicherter Position war mehr an Verhandlungen möglich als während einer Phase interner Herausforderungen.

Für die Sowjetunion wird als ein weiterer Grund immer wieder eine Anfang 1969 auftauchende Angst Moskaus vor China genannt. Aber dies ist womöglich ein im Westen geborener Mythos. In den sowjetischen Akten konnte kein Beleg für einen derartigen Zusammenhang gefunden werden. Was aber gesichert ist, ist das Interesse Moskaus am Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen, um die eigene malade Ökonomie zu modernisieren. Auch deshalb suchte Breschnew bessere Beziehungen gen Westen.

In realistischer Einschätzung der Machtverhältnisse begann die sozial-liberale Regierung die Verhandlungen in Moskau; Warschau gegenüber signalisierte sie, dass dies keine erneute deutsch-sowjetische Verständigung über die Köpfe der Polen hinweg einläuten werde.

Die Gespräche mit der Sowjetunion konnten bis zum Sommer 1970 zu einem Abschluss gebracht werden, die mit Polen im November des Jahres. In beiden Verträgen erkannte die Bundesrepublik die bestehenden Grenzen an. Die Sowjetunion hatte verlangt, dass die Grenzen in den Verträgen als unveränderbar definiert werden sollten, die westdeutsche Seite konnte aber durchsetzen, dass sie als unverletzlich beschrieben wurden. „Unveränderbar“ hätte eine Vereinigung von Bundesrepublik und DDR unmöglich gemacht, „unverletzlich“ erlaubte eine Änderung von Grenzen im Konsens der Beteiligten, wie dies 1990 geschah. Die Tür zur deutschen Einheit blieb also auch nach Vertragsabschluss offen.

Im November 1972 erzielte die Bundesregierung auch eine Einigung mit der DDR. Beide erkannten sich nun als Staaten an, aber nicht völkerrechtlich. Die DDR stellte für die Bundesrepublik auch in Zukunft kein Ausland dar, die gegenseitigen Vertretungen hießen folgerichtig nicht „Botschaften“, sondern „Ständige Vertretungen“. Die Abkommen mit der DDR erleichterten den Reiseverkehr, aber nur in einer Richtung, nämlich von West nach Ost. Erst in den 1980ern gab es auch immer mehr Reiseerlaubnisse für DDR-Bürger zu Besuchen im Westen.

Parallel zu diesen Entspannungsschritten modernisierte die sozial-liberale Regierung die Bundeswehr und gab über 3 % des BIP für Verteidigung aus.

Als Willy Brandt im Mai 1974 zurücktrat, fehlte noch der Schlussstein des Gebäudes „Neue Ostpolitik“, die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Auch sie bestätigte den territorialen Status quo, ließ zugleich einvernehmliche Änderungen der Grenzen zu. Die 1975 in der KSZE-Schlusserklärung festgeschriebenen Menschenrechte bedeuteten für Brandt keine Änderung der Realitäten. 1977 schrieb er: „Wieso konnte und kann man eigentlich meinen, daß durch sie plötzlich alles anders geworden sei, als es durch die Deklarationen und Konventionen der Vereinten Nationen hätte werden können?“2 Brandt hatte gute Argumente auf seiner Seite, dennoch zeigte sich bald, dass er in diesem Punkt irrte.

Nach der KSZE in Helsinki geriet die Ostpolitik aufs Abstellgleis. Die DDR hatte bereits seit der Aufnahme in die Vereinten Nationen ihr Interesse an weiterem Entgegenkommen verloren. Helmut Schmidt verlegte sich notgedrungen auf die Ausgestaltung der Verträge und auf die Abmilderung der praktischen Folgen der Teilung. Die Abrüstungsverhandlungen verkamen zum nie enden wollenden Ringen um Zahlen. Im Wahlkampf um die US-Präsidentschaft Ende 1976 wurde der Begriff „Détente“ zum Unwort, von dem sich alle Bewerber distanzierten. Die politische Elite in Washington hielt der Sowjetunion vor, in Afrika und Asien aggressiv aufzutreten. In Moskau verstand man diese Vorwürfe nicht. Die Entspannungspolitik hielt man im Kreml für ein auf Europa beschränktes Konzept. Aber auch die USA hatten außerhalb Europas hinzugewonnen: Peking stand jetzt Washington näher als Moskau.

Jimmy Carters pointierte Menschenrechtspolitik empfanden Brandt und Schmidt als den Angriff eines Dilettanten auf die Errungenschaften der Entspannungspolitik. Die Sowjetunion wiederum verkannte, wie sehr die Stationierung der SS-20-Raketen die Entspannung belastete.

In der polnischen Krise 1980/81, als die neu entstandene Gewerkschaft Solidarnosc die kommunistische Herrschaft in Frage stellte, mahnten Bahr, Brandt und Schmidt übereinstimmend zur Vorsicht. Frühere sowjetische Interventionen erinnernd bekundeten sie zwar Verständnis für das Streben nach Freiheit, aber aus ihrer Sicht gefährdete das ungestüme Vorangehen von Solidarnosc die Entspannung in Europa, womöglich den Frieden auf dem Kontinent. Es zeigte sich, dass die Schöpfer der Ostpolitik allzu sehr auf die Staatsführungen schauten und die Veränderungen in der Gesellschaft nicht zureichend erfassten. Dies belastete über die Achtzigerjahre hinaus die Beziehungen der SPD zu den nichtkommunistischen Kräften in Osteuropa.

Mitte der Achtziger – Helmut Kohl setzte im Kern die sozial-liberale Ostpolitik fort – lebte die BRD in der paradoxen Situation von seit 1961 nicht mehr gekannten Kontakten zur DDR – Besuche nun in beide Richtungen, immer mehr Städtepartnerschaften – und der gleichzeitigen Abkehr selbst Konservativer von der „Lebenslüge“ der deutschen Einheit. Die Zweistaatlichkeit schien auf Dauer gestellt zu sein, die DDR trotz der Strauß’schen Milliardenkredite stabil. Auch die Hoffnungen auf Wandel im Ostblock, auf eine allmähliche Liberalisierung, erschienen angesichts der Gerontokratie im Kreml, der Militärherrschaft in Polen und Honeckers unbeirrtem Festhalten an der Mauer ein Trugschluss gewesen zu sein. In Sachen Abrüstung bewegte sich bis 1985 nichts, die KSZE-Nachfolgekonferenzen brachten kaum Fortschritte.

Vor 40 Jahren hätten wir also sagen müssen: Die Ostpolitik hat den Frieden sicherer gemacht, aber Wandel im Osten ist ausgeblieben, die persönlichen Kontakte zwischen beiden deutschen Staaten und Gesellschaften haben sich intensiviert, aber dennoch ist die deutsche Einheit ferner denn je.

Nach 1985 beschleunigte sich die Geschichte. 1989 schlug der evolutionäre Wandel von innen heraus in eine Revolution um. Gorbatschow und Solidarnosc, zudem – und meist unterschätzt – die krachende Niederlage des Ostens im ökonomischen Wettbewerb der Systeme waren die entscheidenden Faktoren.

Es ist nämlich zu einfach gedacht, was häufig behauptet wird, dass die intensivierten Wirtschaftsbeziehungen die Lebensdauer der kommunistischen Diktaturen verlängerten. Ja, westliche Kredite halfen in mancher akuten Klemme. Aber für die Devisenzuflüsse, welche die Sowjetunion seit Anfang der 1970er Jahre durch den Verkauf von Rohstoffen wie Öl und Gas verzeichnete, verneinen selbst der CDU/CSU nahestehende Historiker einen langfristig stabilisierenden Effekt: „Der Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft begann in der Phase ihrer Prosperität Anfang der 1970er-Jahre und der unverhofft sprudelnden Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft, die wesentlich durch die Verträge mit Bonn möglich geworden waren.“3 Denn dadurch unterblieben eigentlich erforderliche Reformen des planwirtschaftlichen Wirtschaftssystems. Der neue Reichtum überdeckte die strukturellen Probleme der Industrie.

Langfristig bezog der Ostblock durch die Konzentration auf Rohstoffexporte und billige Produkte eine untergeordnete Position in der Hierarchie der kapitalistisch dominierten Weltwirtschaft und tappte durch die hohen Westkredite, die die meisten kommunistischen Staaten aufnahmen, wie viele Länder der Dritten Welt in die Schuldenfalle, die Anfang der Achtzigerjahre zufiel. In dieser Perspektive war Korb II der Schlusserklärung von Helsinki 1975, in dem es um den Ausbau der Wirtschaftskooperation ging, für den Zusammenbruch des Ostblocks wichtiger als Korb III mit der Garantie der politischen Freiheitsrechte.

Aber führte nicht umgekehrt die Ostpolitik die Bundesrepublik in eine Energieabhängigkeit von der Sowjetunion? Das hört man seit Jahren allerorten, aber zutreffender wird es auch durch ständige Wiederholung nicht.

Die Sympathien mit der Sozialdemokratie unverdächtige FAZ resümierte im April 2022: 1973 „steuerte Russland [d. i. die Sowjetunion] nur 5 Prozent der deutschen Gasimporte bei.“4 Und der Kollege Hermann Wentker, definitiv kein Linker, ergänzt: Auch für die Jahre nach Brandts Rücktritt könne man „noch nicht von einer Abhängigkeit sprechen: 1982 betrug der Anteil sowjetischen Erdgases am westdeutschen Verbrauch gerade einmal 20 Prozent. Außerdem war sich die Bundesregierung damals des Problems bewusst: Im Mai 1980 hatte sie eine Obergrenze von 30 Prozent für sowjetisches Gas beschlossen.“ 5 Zum Vergleich: 2021 kamen zwei Drittel der deutschen Gasimporte aus Russland, heimische Quellen hatten mit circa 5 % nur noch wenig Bedeutung.6 Der Bezug, aber nicht die Abhängigkeit von sowjetischem bzw. russischem Gas begann zu Zeiten der Ostpolitik.

Bilanzierend könnte man sagen: Der Westen hat den Osten nicht totgerüstet, sondern in die Kreditfalle gelockt, in der er zu Tode kam. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit; nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch hatte der Kommunismus 1989 bei zu vielen Menschen jeglichen „Kredit“ verspielt.

Welchen Beitrag leistete die Ostpolitik zur deutschen Einheit?

Messen sollte man die Ostpolitik an den selbst gesteckten Zielen. Sie wollte den Zusammenhalt der Nation wahren, die Tür zur Einheit Deutschlands offenhalten und schließlich auch „den dritten Weltkrieg verhindern“, wie Brandt rückblickend sagte.7 Um das zu erreichen, war die Ostpolitik bereit, sich auf den Boden der Tatsachen zu stellen, sprich: die Grenzen anzuerkennen.

Was den Zusammenhalt der Nation angeht, gelang in drei Schritten, die Grenze durchlässiger zu gestalten. Der erste war das Berliner Passierscheinabkommen von 1963. Der zweite Schritt folgte ab 1973, der dritte ab Mitte der 1980er. Die Schritte eins und zwei waren eindeutig Resultat der Brandt’schen Ostpolitik, Schritt drei geht auf westdeutscher Seite auf das Konto von Helmut Kohl, der hier aber nur deshalb reüssierte, weil er auf der Ostpolitik aufbauen konnte und sie im Kern fortsetzte.

Durch die vermehrten Kontakte über die Blockgrenze hinweg erfuhren immer mehr Menschen im Osten, dass der Westen in puncto Freiheit und Wohlstand weit vorne lag.

Die Chance auf die Einheit der Nation konnte gewahrt werden, indem in allen relevanten Verträgen von der Unverletzlichkeit der Grenzen die Rede war und weil die Angst der Nachbarn vor Deutschland deutlich reduziert werden konnte. Dennoch gab es 1989/90 aus Frankreich, Großbritannien und Italien Stimmen, die sich vor der Vereinigung von BRD und DDR fürchteten. Solidarnosc hingegen hatte bereits Mitte der 1980er erklärt, dass es ganz natürlich wäre, wenn beide Teile Deutschlands wieder zusammenkämen. Dass die Sowjetunion 1990 ihre Zustimmung zur Vereinigung gab, lag ganz wesentlich daran, dass seit der Ostpolitik die Bundesrepublik in Moskau nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen wurde. Das konzediert selbst ein Kritiker vieler Aspekte der Ostpolitik wie Timothy Garton Ash.

Der dritte Weltkrieg, dessen Verhinderung Brandt als Ziel der westlichen Entspannungspolitik aufzählte, brach nicht aus. Bedurfte es dazu der Ostpolitik? Eher nicht; die Angst vor der Selbstauslöschung der Menschheit beherrschte auch ohne sie die Führer in Ost und West. Selbst Ronald Reagan entpuppte sich als unkonventioneller Streiter für die nukleare Abrüstung.

Abrüstung wollte natürlich auch Brandt, noch viel stärker als Reagan. Aber auch Brandt war kein Pazifist; dass die Verteidigungsausgaben zu seiner Kanzlerzeit prozentual deutlich höher lagen als heute, konnten wir in den letzten Jahren immer wieder lesen.

Für die innere Liberalisierung in den kommunistischen Staaten konnte die Ostpolitik nicht mehr als einen günstigen Rahmen bereitstellen. Grundlegende Änderungen im Innern konnten nicht von außen bewirkt werden, davon war auch Brandt überzeugt. Dass mit der Wahl von Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU der Wandel das Zentrum erfasste, erfüllte die kühnsten Hoffnungen, die Bahr und Brandt 1962/63 formuliert hatten. Dennoch lässt sich nicht behaupten, dass hier unmittelbar ein „Wandel durch Annäherung“ gewirkt habe. Von „Annäherung“ zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten kann für den Zeitpunkt von Gorbatschows Wahl keine Rede sein. Sie erfolgte in einer Hochphase des zweiten Kalten Krieges. Ist das nun Beleg für die Gegenthese, dass „Wandel durch Druck“ realistischer war?

Ich denke nicht. Die Neue Ostpolitik hatte als Teil der Entspannungspolitik zwischen den Supermächten dazu beigetragen, das tiefe beiderseitige Misstrauen zu reduzieren, partiell sogar gegenseitiges Vertrauen aufzubauen.
Man stelle sich nur ein alternatives Szenario vor, eines, in dem 1969 nicht SPD und FDP die Mehrheit errungen hätten, sondern die NPD in den Bundestag eingezogen wäre (sie scheiterte mit 4,3 Prozent). Dann hätte entweder die Große Koalition weiter regiert oder die Union hätte sich von den Rechtsextremen tolerieren lassen – so wie sie im März des Jahres 1969 bereit war, ihren Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten mit Hilfe der NPD ins Amt zu hieven.

Aber auch wenn wir das Schreckensszenario beiseiteschieben: Eine weitere Große Koalition hätte den Atomwaffensperrvertrag nicht unterschrieben und die DDR nicht als Staat anerkannt. Die Offerten, die im Frühjahr 1969 aus dem Osten gekommen waren, wären ohne westdeutsche Resonanz geblieben. Nicht nur die Ostverträge wären nicht zustande gekommen, nicht nur der Grundlagenvertrag mit der DDR mit den erleichterten Besuchsmöglichkeiten hätte das Licht der Welt nicht erblickt, schlimmer noch: Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hätte nicht stattgefunden. Kein Korb III, keine Stabilität in Sachen Grenzziehung in Europa, auch nicht die Legitimierung von Grenzveränderungen im Konsens. Die Rahmenbedingungen für oppositionelle Bewegungen in den kommunistischen Ländern wären erheblich schlechter gewesen und ebenso die für die deutsche Einheit.

Dass das Ende der kommunistischen Herrschaft friedlich von statten ging und nicht in eine chinesische Lösung à la Tiananmen 1989 mündete, war der Demilitarisierung des Ost-West-Konflikts, der kommunikativen, Vertrauen aufbauenden Einwirkung des Westens auf den Osten und der Aufrechterhaltung der Kontakte zwischen den Menschen in der DDR und der BRD geschuldet. Hier hatte die Ostpolitik eine wichtige Rolle gespielt.

Mit dem Fall der Mauer begann das Ende des Großprojektes „Ostpolitik“. Im Dezember 1989 verkündete Willy Brandt: „Wir sind in einer neuen Phase, in der es um weitergehende Dinge geht.“8 Anders gesagt: „Jede Zeit will eigene Antworten.“

Kann dennoch der Blick zurück auf die Ostpolitik helfen, diese Antwort zu finden? In den letzten Jahren ist dies vielfach behauptet worden; ich hatte eingangs darauf hingewiesen.

Bei der Diskussion dieser Positionen verlasse ich, darauf will ich ausdrücklich hinweisen, den relativ sicheren Boden einer geschichtswissenschaftlichen Interpretation und begebe mich auf das Feld historisch informierter Politikanalyse; man könnte auch sagen, ich bewege mich nun von der Wissenschaft zur Meinung.
Ich habe es seit 2014, noch mehr seit 2022 für schwierig gehalten, die Ostpolitik als Vorbild für heute zu empfehlen. Seit dem 12. Februar, dem Tag, an dem die Vereinigten Staaten die Seiten wechselten und sich in das Lager Russlands begaben, ist es noch problematischer geworden, auf die Ostpolitik zu rekurrieren, wenn man nach einer Friedenslösung sucht, und am 28. Februar, am letzten Freitag, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass nur noch ganz allgemeine Bestandteile der Ostpolitik, oder besser: von Brandts Außenpolitik, in der heutigen Situation zur Anwendung kommen können.

Wir erleben gerade mehr als eine Zeitenwende, wir stehen am Ende einer Epoche der Weltpolitik. Die internationale Ordnung, die zwischen 1947 und 1949, zwischen Trumans Rede und der Gründung der NATO, entstanden ist, besteht nicht mehr; die Vereinigten Staaten haben die westliche Wertegemeinschaft aufgekündigt. Der Kurswechsel der USA betrifft ja nicht nur die Ukraine und Russland. Auch das, was Trump, Vance und Musk innenpolitisch vorantreiben, hat nichts mehr mit Werten zu tun, die wir in Europa teilen könnten. Da hilft auch nicht der Hinweis von Sigmar Gabriel, es werde eine Zeit nach Trump geben. Erstens bringt uns das im Moment nicht weiter und zweitens wird es dann wohl kaum ein Zurück zur Zeit vor Trump II geben.

Ja, die Eckpunkte von Brandts Außenpolitik – die kleinen Schritte, die Identifizierung partieller Interessenkongruenz bei Fortdauer des Antagonismus im Großen, die Berücksichtigung der Interessen des Gegenübers und der Respekt vor den mittelgroßen und den kleinen Staaten – sind in gewisser Weise überzeitlich und sollten auch heute zum Ersthilfekoffer diplomatischer Notärzte gehören. Aber wenn die stärkste Macht der Welt beschließt, diese Regeln nicht mehr für sich gelten zu lassen, dann stehen wir in einer neuen Zeit.

Vor der ganz anderen Realität muss der Ansatz von Brandt und Bahr auch in anderer Hinsicht kapitulieren. Vor dem 12. Februar, dem Tag der Ankündigung eines Treffens zwischen Putin und Trump, hatte ich mir aufgeschrieben, dass auch das persönliche Vertrauen zwischen den politischen Führungskräften von großer Bedeutung sei, ebenso die damit verbundenen direkten Treffen. Zu Zeiten der Ostpolitik half dies, den Frieden zu stabilisieren, heute besteht die Gefahr, dass die Männerfreundschaft zwischen Putin und Trump das Gegenteil bewirkt.

Die Krux all der Vorschläge, man solle zur Beendigung des Krieges in der Ukraine doch der Diplomatie den Vorrang einräumen, liegt darin, dass es keinen erkennbaren russischen Willen zum Kompromiss gibt. Putin ist „all in“ gegangen, um Friedrich Merz zu zitieren.

Manche meinen, die Lösung bestünde darin, wie in der Ostpolitik in einem ersten Schritt die Realitäten anzuerkennen. Gegenwärtig sind die beiden wichtigsten Realitäten, dass Russland der Aggressor ist und dass die Vereinigten Staaten dies leugnen. Anerkennung der Realitäten im Sinne der Ostpolitik bedeutet nicht, dass über die Köpfe der Ukraine hinweg entschieden wird. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Im Sinne von Brandts Ostpolitik wäre es, die heutige grenzrevisionistische Macht Russland aufzufordern, die Realitäten von 1991 wieder anzuerkennen und die damals festgelegten Grenzen der Ukraine zu respektieren. Aber das ist momentan wohl gänzlich illusorisch.

„Friedliche Koexistenz“ gehört nicht zum außenpolitischen Angebot Putins, er fordert Unterwerfung unter seine Hegemoniegelüste. Mit ihm kann man nicht verhandeln wie mit Breschnew, auch wenn beide Diktatoren sind bzw. waren. Putin verfolgt ein aggressives, imperialistisches Programm, will die bestehenden Grenzen verändern, während der KPdSU-Chef vor über 50 Jahren die damaligen Grenzen des sowjetischen Einflussbereiches zementieren wollte. Das eine Programm bedeutete Frieden – wenn auch nach innen der Friedhofsruhe ähnelnd -, das andere Programm, das von Putin, bedeutet Krieg. Friedliche Koexistenz mit Russland kann es nur geben, wenn auch zwischen der Ukraine und Russland Frieden herrscht.
Was sich jetzt abzeichnet, hat mit der internationalen Ordnung zu Zeiten der Ostpolitik nichts zu tun. Stattdessen erinnert es an das „Konzert der Großmächte“ des 19. Jahrhunderts, in dem einige Staatslenker über das Schicksal von Völkern und Staaten entscheiden und die Welt unter sich aufteilen wollten.

„Heute werden leider nicht Brücken gebaut, sondern gesprengt. […] Es muß einer späteren Entwicklung vorbehalten bleiben, lebendige Verbindungen zwischen der östlichen und westlichen Welt neu herzustellen.“ Im Moment aber ist vorrangig, „daß wir […] keinen Schritt zurückweichen.“9 Das sagte Willy Brandt im März 1948, nach dem kommunistischen Putsch in Prag. Auch wenn ich wenig von einer Zitatenschlacht halte, finde ich es doch in der heutigen Situation recht treffend, jedenfalls wenn man mit der westlichen Welt das demokratische Europa meint, nicht die Vereinigten Staaten.

Willy Brandt glaubte daran, dass sich die Menschheit trotz aller Rückschläge doch allmählich auf dem Weg zu einer besseren Gesellschaft befinde (die aber nie perfekt sein würde), es war ein Rest seiner Aneignung marxistischen Denkens in seiner Jugend. Heute daran noch zu glauben, fällt leider sehr schwer.