Home / Current News / News / Die Guillaume-Affäre und der Rücktritt Willy Brandts im Frühjahr 1974 Die Guillaume-Affäre und der Rücktritt Willy Brandts im Frühjahr 1974 Artikel von Kristina Meyer Stiftung Icon The Foundation published: 03. April 2024 Nach gut viereinhalb Jahren endete Willy Brandts Kanzlerschaft im Mai 1974 – nicht etwa durch eine reguläre Abwahl und auch nicht durch ein Misstrauensvotum, mit dem die CDU/CSU-Fraktion ihn zwei Jahre zuvor vergeblich zu stürzen versucht hatte, sondern durch den Rücktritt des Bundeskanzlers. Auslöser für diesen freiwilligen Entschluss war eine Spionageaffäre in Brandts direktem politischen Umfeld: Einer seiner engsten Mitarbeiter im Bundeskanzleramt, der 47-jährige Günter Guillaume, war gemeinsam mit seiner Frau Christel am 24. April 1974 in Bonn wegen des dringenden Verdachts geheimdienstlicher Tätigkeit für die DDR verhaftet worden. Nach Bekanntwerden der Enttarnung Guillaumes und der Tatsache, dass der Bundeskanzler bereits seit Mai 1973 vom Verdacht gegen seinen Referenten gewusst, ihn aber auf Anraten der Sicherheitsorgane zwecks weiterer Ermittlungen auf seinem Posten belassen hatte, übernahm Willy Brandt die politische Verantwortung und erklärte am 6. Mai 1974 seinen Rücktritt. Zehn Tage später wurde Helmut Schmidt zu seinem Nachfolger gewählt. Bundeskanzler Willy Brandt mit seinem Referenten, Günter Guillaume (mit Sonnenbrille), auf einer Belegschaftsversammlung der Braunschweigischen Kohlebergwerke (BKB) in Büddenstedt bei Helmstedt. Wahlkampfveranstaltung vor LT-Wahl Niedersachen 1974. Foto: Bundesregierung/Ludwig Wegmann Der Spion Seit Januar 1970 hatte Günter Guillaume im Bonner Kanzleramt gearbeitet, zunächst als Referent für Gewerkschaftsfragen, ab 1972 dann in Brandts unmittelbarem Umfeld als dessen Referent für Parteiangelegenheiten. Mit seiner Frau Christel war Guillaume 1956 aus der DDR in den Westen geflohen – so jedenfalls glaubte man in Bonn. Der gelernte Fotograf, geboren 1927 in Berlin, hatte Anfang der 1950er Jahre für den DDR-Schulbuchverlag „Volk und Wissen“ gearbeitet und 1951 die gleichaltrige Christel Boom geheiratet, die als Sekretärin für das SED-nahe „Komitee der Kämpfer für den Frieden“ tätig war. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS/Stasi) warb zunächst Günter und bald auch Christel Guillaume für die Mitarbeit an und bildete sie systematisch zu sogenannten Überläuferkandidaten aus. Im Auftrag der für die Auslandsspionage zuständigen Hauptverwaltung A (HVA) des MfS reiste das Ehepaar 1956 per Flugzeug in die Bundesrepublik ein. Weil die bereits kurz zuvor in den Westen übergesiedelte Mutter von Christel die niederländische Staatsbürgerschaft besaß, galten die Guillaumes als Familiennachzügler und konnten viele der üblichen Sicherheitsüberprüfungen der Notaufnahmelager für sogenannte „Zonenflüchtlinge“ umgehen. Sie ließen sich in Frankfurt am Main nieder und eröffneten dort eine Kaffeestube mit angeschlossenem Tabakladen, der sich als Treffpunkt zur Übergabe geheimer Informationen eignete. Obwohl es nach den Maßgaben der HVA nicht erwünscht war, dass Überläuferpaare im Westen eine Familie gründeten, bekamen die Guillaumes 1957 einen Sohn namens Pierre. Da Günter und Christel Guillaume vor allem auf die SPD angesetzt waren, traten sie in die Partei ein und engagierten sich aktiv in ihr. Passend zu ihrer angeblichen Flucht aus der DDR gaben sie sich als rechte, stramm antikommunistische Sozialdemokraten aus, womit sie im traditionell sehr linken SPD-Bezirk Hessen-Süd hervorstachen. Christel arbeitete als Sekretärin des SPD-Vorstandsmitglieds Willi Birkelbach in der Hessischen Staatskanzlei, Günter wurde 1963 Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Frankfurter Stadtrat und organisierte 1969 den Wahlkampf von SPD-Bundesverkehrsminister Georg Leber. Wenige Monate nach dem Antritt der ersten sozial-liberalen Koalition erhielt er auf Empfehlung Lebers Anfang 1970 eine Anstellung als Referent in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik des Bundeskanzleramts, und die Familie Guillaume zog nach Bonn. Bei der obligatorischen Sicherheitsüberprüfung fielen zwar Ungereimtheiten in Günter Guillaumes Lebenslauf auf, aber weiter nachgegangen wurde den Hinweisen nicht. Im Oktober 1972 stieg er zum persönlichen Referenten des Bundeskanzlers in Parteiangelegenheiten auf. In dieser Funktion war er für die Organisation sämtlicher Parteitermine Brandts sowie den entsprechenden Schriftverkehr zuständig und nahm an allen Wahlkampf- und parteigebundenen Reisen des Kanzlers teil. Willy Brandt mit Dietrich Sperling und Günter Guillaume bei Wahlkampfveranstaltung in Darmstadt, 1972. Foto: J.H. Darchinger/FES Der Verdacht Obwohl es seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre mehrfach Hinweise gegeben hatte, die die bundesdeutschen Geheimdienste auf die Spur des Ehepaars Guillaume hätten führen können, war es im Frühjahr 1973 eher dem Zufall geschuldet, dass zwei Mitarbeiter unterschiedlicher Abteilungen des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) bei einem Kantinengespräch ihre Erkenntnisse abglichen und zu dem Schluss kamen, dass es sich bei der in mehreren Verdachtsfällen auf DDR-Spionage auftauchenden Person „G.“ um den Referenten des Bundeskanzlers handeln musste. Bereits am 29. Mai 1973 – elf Monate vor der Verhaftung der Guillaumes – informierte BfV-Präsident Günther Nollau den Bundesinnenminister über 30 konkrete Verdachtsmomente, die auf eine Spionagetätigkeit des Ehepaars für die DDR hindeuteten. Hans-Dietrich Genscher setzte noch am selben Tag den Bundeskanzler in Kenntnis. Dieser hielt die Verdächtigungen zwar für abwegig, folgte aber dem dringenden Rat Nollaus, den Referenten vorerst auf seinem Posten zu belassen, damit weiter ungestört gegen ihn ermittelt werden konnte, denn gerichtsfeste Beweise gegen Günter und Christel Guillaume gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Brandt informierte lediglich seinen Büroleiter Reinhard Wilke und Kanzleramtschef Horst Grabert über den Verdacht. Nollau wiederum setzte – wie in Fällen von möglichem Landesverrat vorschriftsgemäß – auch den SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner in Kenntnis. Zwar schätzte Willy Brandt seinen Referenten als fleißigen und gut organisierten Mitarbeiter, hegte aber keinerlei persönliche Sympathien für den recht biederen, intellektuell wenig inspirierenden und aufgesetzt kumpelhaften Guillaume. Schon bevor er über die Verdachtsmomente gegen ihn informiert worden war, hatte Brandt versucht, ihn loszuwerden und den Kanzleramtschef damit beauftragt, eine andere Verwendung für ihn zu finden. Nun aber wäre ein plötzliches „Wegloben“ des Referenten höchst verdächtig erschienen und hätte sowohl Guillaume als auch die HVA auf die Fährte gesetzt, dass Ermittlungen gegen ihn im Gange waren. Im Juli 1973 sollten Willy und Rut Brandt gemeinsam mit ihrem jüngsten Sohn Matthias einen vierwöchigen Urlaub in ihrem Ferienhaus nahe der norwegischen Stadt Hamar verbringen – und Guillaume war für den bei Urlaubsreisen des Kanzlers obligatorischen Begleitdienst eingeteilt. Auch hier riet der Verfassungsschutzpräsident dazu, an diesem Plan festzuhalten, um Guillaume in Sicherheit zu wiegen und besser überwachen zu können – und so begleitete dessen Familie mitsamt Sohn Pierre die Brandts nach Norwegen. Der Kanzler ging davon aus, dass die zwei mitgereisten Personenschützer sowie zwei Beamte des Bundesnachrichtendienstes auch für die Überwachung Guillaumes zuständig waren, aber da irrte er: Nollau hatte seine Abteilung für Spionageabwehr noch nicht einmal über den Norwegenurlaub informiert. Günter Guillaume war während des Aufenthalts dafür zuständig, die dort per Fernschreiber eintreffenden Informationen für den Kanzler abzuholen und an ihn zu übergeben – und so bekam er, anders als in seinem Bonner Arbeitsalltag, nun sogar Zugang zu geheimen oder vertraulichen Dokumenten aus dem Bereich Außenpolitik, die er ungestört abfotografieren konnte. Unmittelbar nach dem Norwegenurlaub begann der Verfassungsschutz mit einer vorsichtigen Beschattung von Christel Guillaume, die ihre Verfolger allerdings sehr bald bemerkte: Nun wussten die Guillaumes, dass sie überwacht wurden, und fuhren ihre Aktivitäten entsprechend herunter, um keinen weiteren Verdacht zu erregen. Da die Ermittlungen gegen das Ehepaar entsprechend wenig neue Erkenntnisse erbrachten, stellte der Verfassungsschutz sie im Herbst 1973 sogar wieder ein. Bundeskanzler Willy Brandt (links) mit seinem Referenten, Günter Guillaume, auf einer Informationsreise durch Niedersachsen. 1974. Foto: Bundesregierung/ Ludwig Wegmann Die Enttarnung Nach Monaten des Stillstands machte das Kanzleramt Druck und bestellte den Verfassungsschutzpräsidenten für den 1. März 1974 zum Gespräch ein. Man einigte sich darauf, trotz weiterhin fehlender gerichtsfester Beweise gegen das Ehepaar Guillaume nun die Bundesanwaltschaft einzuschalten, die über eine förmliche Verfahrenseröffnung entscheiden sollte. Erst nach weiteren sechs Wochen, in deren Verlauf man die Familie Guillaume sogar noch in den Osterurlaub nach Südfrankreich fahren ließ, erfolgte der Zugriff: Ausgestattet mit einem Hausdurchsuchungsbefehl – für einen Haftbefehl fehlten weiterhin die Beweise – klingelte ein größeres Polizeiaufgebot am frühen Morgen des 24. April 1974 an der Wohnungstür der Guillaumes in der Bad Godesberger Ubierstraße. Günter Guillaume, der die Tür im Morgenmantel öffnete, lieferte prompt den bislang fehlenden Beweis und gab sich als Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) und Mitarbeiter des MfS zu erkennen. Er und seine Frau wurden in ein Untersuchungsgefängnis in der Bonner Innenstadt gebracht. Der 17-jährige Sohn Pierre erfuhr im Moment der Verhaftung seiner Eltern erstmals von deren Spionagetätigkeit für die DDR. Als Willy Brandt am Mittag des 24. April von einem Staatsbesuch in Ägypten zurückkehrte und auf dem Flughafen Köln/Bonn landete, erwartete ihn auf dem Rollfeld der Bundesinnenminister, um ihn persönlich über die Verhaftung der Guillaumes zu informieren. Nachdem am Tag darauf auch die Öffentlichkeit von der Enttarnung eines DDR-Spions im Kanzleramt erfahren hatte, musste der Kanzler sich am 26. April in einer von der Unionsfraktion beantragten Aktuellen Stunde vor dem Bundestag zu den Vorfällen äußern. Er sprach von einer „tiefen menschlichen Enttäuschung“ und erklärte, zwar schon seit längerer Zeit vom Verdacht gegen Guillaume gewusst, ihn aber auf den ausdrücklichen Rat der Experten der Sicherheitsorgane in seinem Amt belassen zu haben. Auch behauptete er, dass Guillaume nie Zugang zu geheimen Dokumenten gehabt habe – obwohl genau das in Norwegen der Fall gewesen war –, und gab der Opposition damit Anlass zu dem nachträglichen Vorwurf, Brandt habe das Parlament bewusst getäuscht. Der Rücktritt Die Frage nach einem möglichen Rücktritt des Bundeskanzlers kam erst auf, als in den Tagen nach der Verhaftung immer neue Details über die Spionageaffäre an die Öffentlichkeit gelangten, darunter die Tatsache, dass früheren Hinweisen auf Guillaumes Spionagetätigkeit nicht nachgegangen worden war oder dass die Guillaumes trotz bereits bestehender Verdachtsmomente die Brandts in den Familienurlaub begleitet hatten. Am 1. Mai, als Brandt sich gerade zur traditionellen DGB-Kundgebung in Hamburg befand, übergab ihm Genschers persönlicher Referent Klaus Kinkel dort ein Dossier des Bundeskriminalamtes. Es enthielt Protokolle der Vernehmungen von Brandts Personenschützern, die behaupteten, Günter Guillaume habe dem Bundeskanzler während seiner Wahlkampf- und Dienstreisen regelmäßig „Frauen zugeführt“, möglicherweise sogar auf Staatskosten. Nach Ansicht von Verfassungsschutzpräsident Günter Nollau und BKA-Chef Horst Herold bargen diese Aussagen ein enormes Potenzial zur Erpressung des Bundeskanzlers, und entsprechend bat Nollau den SPD-Fraktionsvorsitzenden Wehner, er solle Brandt den Rücktritt nahelegen. Ob an den pikanten Aussagen der Personenschützer wirklich etwas dran war, ist zu bezweifeln: Einer der Sicherheitsleute entschuldigte sich später bei Brandt für die Aussagen und erklärte, das BKA habe ihn und seine Kollegen während der Vernehmungen stark unter Druck gesetzt. Nachdem er Kenntnis von jenem BKA-Dossier erhalten hatte, geriet Willy Brandt in einen psychisch sehr labilen Zustand. Einmal mehr war er von den Sicherheitsorganen enttäuscht, die offensichtlich mehr Zeit und Energie auf Gerüchte über sein Privatleben als auf den eigentlichen Spionagefall verwendeten. Auch innerhalb seiner eigenen Partei mehrten sich nun die Stimmen, die den Kanzler vor möglichen Erpressungsversuchen und Diffamierungskampagnen warnten und ihn durch die angeblichen Frauengeschichten zusätzlich geschwächt sahen. Am Rande einer schon länger geplanten Klausurtagung der SPD-Spitze mit Gewerkschaftsfunktionären in Bad Münstereifel kam es am 4. Mai zu einem Vieraugengespräch zwischen Brandt und Herbert Wehner, der ohnehin längst an der Regierungsfähigkeit des Kanzlers zweifelte und ihm zwar nicht direkt den Rücktritt nahelegte, aber auch nicht widersprach, als Brandt diesen Schritt selbst ins Spiel brachte. Am Morgen des 5. Mai informierte Willy Brandt die SPD-Führung über seinen Entschluss, zurückzutreten. In seinem offiziellen Rücktrittsschreiben, das Bundespräsident Gustav Heinemann am Abend des 6. Mai erhielt, erklärte Brandt, er „übernehme die politische Verantwortung für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre Guillaume“. Im Begleitbrief schrieb er: „Ich bleibe in der Politik, aber die jetzige Last muss ich loswerden.“ Um Mitternacht wurde die Nachricht seines Rücktritts offiziell über die Medien verbreitet, am 7. Mai erläuterte Brandt seine Entscheidung vor der SPD-Bundestagsfraktion, und am Tag darauf äußerte er sich in einer Fernsehansprache mit den Worten: „Was immer mir an Ratschlägen gegeben worden war, ich hätte nicht zulassen dürfen, dass während meines Urlaubs in Norwegen im Sommer vergangenen Jahres auch geheime Papiere durch die Hände des Agenten gegangen sind. Es ist und bleibt grotesk, einen deutschen Bundeskanzler für erpressbar zu halten. Ich bin es jedenfalls nicht.“ Herbert Wehner, Willy Brandt und Helmut Schmidt beim SPD-Bundesparteitag in Hannover, April 1973. Bundesarchiv / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA 3.0 Anlass, nicht Ursache Die Guillaume-Affäre war der Anlass, nicht aber die Ursache für den Rücktritt Willy Brandts. Seit dem phänomenalen Wahlsieg vom November 1972, als Brandt sich auf dem Höhepunkt seiner Popularität befunden hatte, hatten sich mehrere krisenhafte Entwicklungen zu einer Gemengelage verdichtet, die seine Position deutlich geschwächt hatten: Die Ölkrise infolge des Jom-Kippur-Kriegs vom Oktober 1973, ein sinkendes Wirtschaftswachstum und enorm hohe Staatsausgaben, wochenlange Streiks bei den Müllmännern und Fluglotsen, harte Lohnkämpfe vor allem der ÖTV, die einen für Unternehmen und Staatskassen enorm belastenden Tarifabschluss erzielten, sowie mehrere außenpolitische Krisen und Verstimmungen, etwa zwischen Bonn und Washington. Schon länger kursierte das Bonmot vom „Teilkanzler“, der sich vor allem in die Außenpolitik flüchte, anstatt sich um die zahlreichen innenpolitischen Probleme zu kümmern. Bereits im Dezember 1973 titelte der SPIEGEL mit der Schlagzeile „Kanzler in der Krise“ und schrieb: „Das Monument bröckelt“. Bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg musste die SPD im März 1974 herbe Verluste wegstecken, und auch für die anstehende Landtagswahl in Niedersachsen sah es für die Partei nicht gut aus. Brandt litt außerdem unter gesundheitlichen Problemen und depressiven Verstimmungen, die ihn in seiner Regierungstätigkeit beeinträchtigten. Auch in den eigenen Reihen war immer öfter die Kritik zu hören, wonach es dem Kanzler an Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit mangele. Die Spionage-Affäre alleine hätte wohl keinen Rücktritt erforderlich gemacht – weder die Fehler der Sicherheitsbehörden, noch die Informationen, die das Ehepaar Guillaume mutmaßlich nach Ost-Berlin geliefert hatte. Erst im Zusammenspiel mit den übrigen krisenhaften Entwicklungen seit Ende 1972 und den nach der Verhaftung Guillaumes aufkommenden Gerüchten über Brandts Privatleben und das damit verbundene Erpressungspotenzial geriet die Guillaume-Affäre zum Anlass für den Entschluss zum Rücktritt. Laut einer Meinungsumfrage befürworteten nur 37 Prozent der befragten Bundesdeutschen den Rücktritt des Kanzlers, während 43 Prozent die Entscheidung für falsch hielten und bedauerten; 20 Prozent zeigten sich unentschlossen. 41 Prozent der Befragten, vor allem SPD-Anhänger, betrachteten den Rücktritt als ein Zeichen politischer Größe, und nur 34 Prozent, insbesondere CDU/CSU-Anhänger, als einen Ausdruck von Führungsschwäche. 51 Prozent waren der Ansicht, dass der Bundesrepublik durch Guillaumes Spionagetätigkeit ein großer Schaden entstanden war. In der Sonntagsfrage von Ende April 1974 – noch vor Brandts Rücktritt – sank die SPD in der Wählergunst von 39 auf 30 Prozent, die CDU stieg von 49 auf 54 Prozent. Das persönliche Ansehen Brandts hatte jedoch vor allem vor dem Bekanntwerden der Spionage-Affäre gelitten: Seine Zustimmungswerte waren von 72 Prozent im Herbst 1972 auf nur 35 Prozent Anfang 1974 gesunken; die Guillaume-Affäre selbst hingegen hatte keine nachhaltig negativen Auswirkungen auf sein Image. Als SPD-Parteivorsitzender, der er noch weitere 13 Jahre blieb, aber auch als international angesehener „elder statesman“, der sich vor allem als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission und als Präsident der Sozialistischen Internationale in global- und europapolitischen Fragen engagierte, genoss er im In- und Ausland weiterhin ein hohes Ansehen. Prozess und Rückkehr in die DDR Wegen schweren Landesverrats wurde Günter Guillaume im Dezember 1975 vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf zu 13 Jahren, seine Frau Christel zu 8 Jahren Haft verurteilt. 1981 konnten sie in der Folge eines Abkommens beider deutscher Staaten über Häftlingsaustausche vorzeitig entlassen werden und nach 25 Jahren in die DDR zurückkehren. Dort wurden sie als „Kundschafter des Friedens“ gefeiert, so etwa in einem Dokumentarfilm mit dem Titel „Auftrag erfüllt“, und hielten Vorträge über ihren Einsatz im Westen. Indem die DDR- Führung die Guillaumes zu Helden stilisierte, versuchte sie das blamable Ende ihrer Mission zu überspielen: Zwar war es entgegen allen Erwartungen gelungen, einen Spion in den engsten Machtzirkel des politischen Gegners einzuschleusen, aber einen Rücktritt Willy Brandts hatte das MfS damit ganz gewiss nicht angestrebt. Dass letztlich die Stasi den Anlass für Brandts Rücktritt geliefert hatte, nachdem die DDR zwei Jahre zuvor noch durch die Bestechung von CDU-Bundestagsabgeordneten dafür gesorgt hatte, dass Brandt das Misstrauensvotum überstand, betrachtete HVA-Chef Markus Wolf im Rückblick als klares Eigentor für die DDR. Die Folgen der Spionage-Affäre für die Beziehungen der beiden deutschen Staaten blieben sehr begrenzt: Erst im Juni 1973 war der im Dezember 1972 geschlossene Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR ratifiziert worden – ein weiterer Baustein der Neuen Ostpolitik der sozial-liberalen Regierung. Wenige Tage vor Brandts Rücktritt waren in Bonn und Ost-Berlin die neuen „Ständigen Vertretungen“ der beiden deutschen Staaten eröffnet worden. Auf beiden Seiten der Mauer war man davon überzeugt, dass die Guillaume-Affäre diesen Entspannungskurs nicht gefährden durfte, und entsprechend war man wechselseitig darum bemüht, die Wogen schnell wieder zu glätten. Vertreter Bonns machten der Gegenseite jedoch klar, dass auf nachrichtendienstliche Aktionen wie den Einsatz der Guillaumes fortan zu verzichten sei, wenn man das Verhältnis beider Staaten nicht gefährden wolle. Weil die HVA ihren gesamten Aktenbestand während der Auflösung des MfS 1989/90 vernichten durfte, sind lediglich Zusammenfassungen der von den Guillaumes gelieferten Informationen in der sogenannten SIRA-Datenbank überliefert. Aus diesen Kurzberichten lässt sich schlussfolgern, dass der nachrichtendienstliche Wert ihrer Spionagetätigkeit nicht besonders hoch war. Vom 30. Juli 1969 bis zum 8. April 1974 übermittelte Guillaume in 23 Fällen SPD-Interna, in 12 Fällen Informationen zu Fragen der Regierungspolitik und in 9 zu Gewerkschaftsfragen. Die teils brisanten Dokumente zu den Verstimmungen zwischen Bonn und Washington, die Guillaume während des gemeinsamen Norwegenurlaubs mit Brandt gesammelt hatte, gelangten nicht durch den Spion selbst nach Ost-Berlin – die Botin warf den Dokumentenkoffer wohl aus Angst in den Rhein –, sondern kurioserweise erst im Zuge des Prozesses gegen das Ehepaar Guillaume 1975, bei dem offenbar jemand die dort als Beweismaterial vorgelegten Geheimsachen im Gericht kopierte und an die Stasi durchstach. Günter Guillaume hielt bis zu seinem Tod 1995 an der Vorstellung fest, er habe durch seine Spionagetätigkeit sowohl der DDR als auch Willy Brandt geholfen. Diese doppelte Loyalität, an deren Vereinbarkeit Guillaume selbst glaubte, gibt bis heute Rätsel auf. Christel Guillaume dagegen nahm eine zunehmend kritische Distanz zu ihrer vergangenen Spionagetätigkeit ein und betrachtete ihr Leben im Rückblick als „verpfuscht“. Günter Guillaume starb 1995; Christel, die nach der Scheidung des Paares wieder den Namen Boom annahm, lebte bis 2004. ** Weiterführende Literatur: Eckard Michels: Guillaume, der Spion. Eine deutsch-deutsche Karriere, Berlin 2013. Wibke Bruhns: Nachrichtenzeit. Meine unfertigen Erinnerungen, München 2012. Pierre Boom/Gerhard Haase-Hindenberg: Der fremde Vater, Berlin 2005. Hermann Schreiber: Kanzlersturz – Warum Willy Brandt zurücktrat, München 2003. Willy Brandt: Erinnerungen. Mit den „Notizen zum Fall G“, Berlin, Frankfurt am Main 1994. Günter Guillaume: Die Aussage – Wie es wirklich war, Tübingen 1990. Dr. Kristina Meyer Wissenschaftliche Mitarbeiterin Send E-Mail Telefon Icon 030 787 787 0 Umfrage Icon resume Profile More news