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Neuerscheinung: »Willy Brandt muss Kanzler bleiben!« Die Massenproteste gegen das Misstrauensvotum 1972

The Foundation

„Willy Brandt muss Kanzler bleiben!“: Die zentrale Forderung einer der größten Protestwellen in der Geschichte der Bundesrepublik ist auch Titel des neuen Buches von Bernd Rother, das im Campus Verlag in unserer neuen Reihe „Willy Brandt – Studien und Dokumente“ erschienen ist. Das Buch rekonstruiert erstmals die heute vergessenen Streiks und Demonstrationen gegen das konstruktive Misstrauensvotum, mit dem am 27. April 1972 CDU und CSU versuchten, Bundeskanzler Willy Brandt zu stürzen und die Ratifizierung der Ostverträge zu verhindern.

Zur Neuerscheinung sprechen wir mit Bernd Rother über sein Buch. Das Interview basiert auf dem Gespräch unserer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Kristina Meyer mit dem Autor, das als 30-minütiger Podcast in der Reihe Campus Chat – Wissenschaft im Gespräch erschienen ist. Sie blicken dabei auf die Formen des Protests und die damals wie heute viel diskutierte Polarisierung der Gesellschaft.

Wer sich für die Ereignisse rund um das Misstrauensvotum in 1972 interessiert denkt meistens erst einmal an neue skandalträchtige Enthüllungen rund um die Themen Stasi und Stimmenkauf. Aber worum geht es in dem Buch tatsächlich?

Mein Thema sind die massenhaften Demonstrationen und Streiks als Protest gegen das Misstrauensvotum. Das ist eine Bewegung, die die Bundesrepublik damals in Atem gehalten hat, aber um die sich bisher niemand gekümmert hat. Über 400.000 Menschen haben demonstriert und gestreikt. Aber alles, was bisher publiziert worden ist, dreht sich um den Stimmenkauf, um den Einfluss der Stasi oder andere Theorien. Es hat einen Untersuchungsausschuss des Bundestages dazu gegeben. Aber diese Proteste sind in Vergessenheit geraten.

Das Buch schildert sehr detailliert die unterschiedlichen Aktionen im Vorfeld des Misstrauensvotums. Welche Methoden oder kreativen Protestformen sind dabei hervorzuheben?

Hauptsächlich waren es die traditionellen Methoden. Man hat für eine Viertelstunde, eine halbe Stunde oder zwei Stunden in den Betrieben gestreikt, dem Hauptort der Proteste. Oder man hat eine Demonstration einberufen auf einem zentralen Platz. Daneben gab es aber in der Tat sehr kreative Aktionen. In Kamp-Lintfort hat auf einer Zeche die Betriebsfeuerwehr mit 15 Angehörigen gestreikt. Das bedeutete angesichts der Sicherheitsvorkehrungen, dass die anderen 5000 Beschäftigten auch nicht arbeiten konnten. Eine ganz andere Aktion fand auf der Autobahn zwischen dem Ruhrgebiet und Köln statt, wo LKW-Fahrer hinten an der Plane ein Plakat hatten. Darauf stand: „Wir lassen keine CDU-Mitglieder vorbei“. Wenn ein LKW-Fahrer im Rückspiegel zum Beispiel einen Mercedes sah, dann fuhr er auf die Überholspur und blockierte dieses Auto. Und in der Verwaltung des städtischen Krankenhauses in Hanau erschienen mehrere Sekretärinnen in roten Kleidern oder Kostümen. Sie haben als erstes an dem Morgen eine Flasche Sekt aufgemacht und auf den Frieden und Kanzler Willy Brandt angestoßen. Im Nebenraum saß der von der CDU stammende zuständige Dezernent und ärgerte sich. Und dann haben sie die Übertragung der Debatte und der Abstimmung verfolgt, nicht gearbeitet und im Anschluss daran auch noch mal wieder zum Ärger ihres Vorgesetzten gefeiert.

Hatte der Protest eine generationelle Dimension? Gab es personelle Überschneidungen mit der APO?

 Das war nicht der Fall. Es war nicht so, dass jetzt die Studenten besonders aktiv waren, sondern es war in den Betrieben. In den Betrieben war es auch kein großer Unterschied, ob man jünger oder älter war. Es gab also keinen Riss wie bei den Demonstrationen Ende der 60er Jahre.

Wurden die Proteste in irgendeiner Form von der SPD oder den Gewerkschaften organisiert und gelenkt?

Ganz im Gegenteil. SPD und Gewerkschaftsführung waren sehr darauf bedacht, nicht als Initiatoren dieser Aktionen aufzutreten. Auch hinter den Kulissen haben sie das nicht getan. Denn das Vorgehen der Opposition war durch das Grundgesetz gedeckt und war verfassungskonform. Man konnte an der Legalität des Antrages überhaupt keinen Zweifel haben. Die Parteiführung und die Gewerkschaftsführung hatten kein Interesse daran, als diejenigen dazustehen, die den Bundestag unberechtigter Weise unter Druck setzen würden.

Welchen Einfluss hatte das gescheiterte Misstrauensvotum und die damit verbundene Welle der Solidarisierung auf die vorgezogene Bundestagswahl im November 1972?

Die Wahlbeteiligung im November betrug 91 Prozent. Die Menschen hatten also Vertrauen in die Bedeutung der Wahlen. Das liegt sicherlich auch daran, dass am Ende das Misstrauensvotum gescheitert ist. Im Wahlergebnis vom 19. November 1972 wurde die SPD dann erstmals stärkste Partei.  Die Proteste, die eine Veränderung des Votums von 1969 befürchteten, hatten auch zu diesem Ergebnis beigetragen.

Welche Bedeutung hatte die Arbeiterschaft für diese Protestkultur, die sich in den 70er Jahren weiterentwickelte?

Das ist ein Moment des Übergangs. 1972 protestierte die Arbeiterschaft. Auf der anderen Seite sind da spontane Proteste. Das war ein neues Moment und weist in die Zukunft. Unabhängig von Großorganisationen oder Aufrufen von Zentralen gingen die Menschen auf die Straße, um gegen Atomkraftwerke oder gegen die Aufrüstung zu protestieren. Es hat also einen Doppelcharakter mit Blick auf die Arbeiterschaft, denn es es ist das letzte Mal, dass sie mit einer rein politischen Forderung auf die politische Bühne tritt.

»Willy Brandt muss Kanzler bleiben!« Die Massenproteste gegen das Misstrauensvotum 1972  von Bernd Rother
aus der Reihe Willy Brandt – Studien und Dokumente 
203 Seiten, EUR 26,00
ISBN 9783593515151

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