Startseite / Aktuelles / Neuigkeiten / Frank Wolff im Gespräch Frank Wolff im Gespräch Der neue wissenschaftliche Mitarbeiter der Stiftung über Willy Brandt, deutsch-deutsche Migration und die Gefahren von neuen Grenzen für unsere Gesellschaft. Stiftung Icon Die Stiftung Veröffentlicht: 01. Juli 2024 Der Historiker Frank Wolff nimmt am 1. Juli 2024 seine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung auf. Seit 2011 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Neuesten Geschichte an der Universität Osnabrück. Zuletzt leitete er die Forschungsgruppe „Internalizing Borders: The Social and Normative Consequences of the European Border Regime“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld. Am 26. Juni moderierte Frank Wolff bereits im Forum Willy Brandt Berlin die Buchvorstellung von Frank Böschs neuem Buch „Deals mit Diktaturen“. Wir haben die Gelegenheit für ein kurzes Gespräch genutzt. Wenn Sie an Willy Brandt denken – was fällt Ihnen als Erstes ein? Seine Lebensdaten: 1913-1992. Das ist ziemlich genau jene Zeitspanne, die der britische Historiker Eric Hobsbawm das „Zeitalter der Extreme“ getauft hat. Dies ist zum einen eine sagenhaft spannende Phase der modernen Geschichte, deren Brüche und steten Neuanfänge sich auch in der Biographie Willy Brandts spiegeln. Zum anderen ist es aber auch eine Zeit innovativer Verständigungsprozesse, der internationalen Neuorientierung und der Demokratisierung in Politik und Gesellschaft, also ebenso Aspekte, für die der Name Willy Brandt wie kaum ein anderer steht. Er hat diese Zeit nicht nur erlebt, er hat sie ganz zentral mitgestaltet. Und er hat natürlich auch immer wieder damit gerungen, dass es keine einfachen Antworten gibt. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wird wieder vermehrt über die Außen- und Sicherheitspolitik unter Willy Brandt diskutiert. Welche Lehren können politisch Verantwortliche heute aus Brandts Politik ziehen? Sein Leben und seine Politik stehen für mich sinnbildlich für das teils intuitive, teils hart erlernte Verständnis, dass es nicht einfach die Mitte zwischen zwei Polen ist, die einen erstrebenswerten ruhigen Punkt markiert. Vielmehr sind feste normative und moralische Bezugspunkte nötig, um Politik so zu gestalten, dass sie unterschiedliche Aspekte produktiv miteinander verbinden können – oder um zu erkennen, welche Grundlage es braucht um überhaupt in Vertrauensbildungsprozesse einzusteigen. In seiner Zeit hieß dies, die Verständigung mit der Sowjetunion so zu suchen, dass auch die Westbindung der Bundesrepublik weiterentwickelt wurde. Im Gegensatz zu späteren holzschnittartigen Lesarten der „Ostpolitik“ stand diese auf einem normativen Fundament, das aus dem Streben nach den Menschenrechten, der Unmöglichkeit gewaltsamer Grenzveränderungen und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker bestand. Ich zweifle also nicht daran, dass Willy Brandt sehr klare Worte für das Vorgehen Russlands gefunden hätte. Zugleich hat er aber auch seine nach Westen ausgerichtete Militärpolitik mit globalen Initiativen von Abrüstung und Friedensschaffung verbunden. Solche Initiativen fehlen heute schmerzlich, nicht nur weil sie vielleicht zu konkreten politischen Ergebnissen führen können, sondern auch, weil von ihnen eine Hoffnung ausgeht die es für friedliche Kohäsion braucht. Ich bezweifle aber, dass Historikerinnen und Historiker den politisch Verantwortlichen heute Lehrsätze auf den Weg geben können oder sollen. Sie können allerdings daran erinnern, dass Politik sehr lange brauchen kann, bis sie fruchtet. Es war ja kein Zufall, dass auch Kanzler Schmitt und insbesondere die doch ganz anders aufgestellte Regierung unter Kanzler Kohl die Brandtsche „Ostpolitik“ in weiten Teilen fortführte. Zudem können wir Fehleinschätzungen aufzeigen. Bei der „Ostpolitik“ war dies auf lange Sicht vor allem das Unterschätzen gesellschaftlicher Dynamiken, also dass die soziale Wirkung der Annäherungspolitik und von Abkommen wie der Grundlagenvertrag oder die KSZE-Schlussakte. Sie beförderten ja oppositionelles Denken und zum Beispiel die offene Dissenserklärung des Ausreiseantrags paradoxerweise maßgeblich mit, ohne zu sehen, das solches Verhalten eine wünschenswerte Destabilisierung des diktatorischen Regimes darstellte. Als Autor des Buches „Die Mauergesellschaft“ haben Sie sich auch intensiv mit der Rolle der deutsch-deutschen Migration im Kalten Krieg beschäftigt. Wie prägte die innerdeutsche Migration die damalige Gesellschaft? Mein Versuch, das zu erkunden, hat zu einem ziemlich dicken Buch geführt. Aber es gibt gewiss Eckpunkte, die hier zu nennen wären. Zum einen – und vom Ende her gedacht – hat sich für mich klar herausgestellt, dass die Ausreise die SED-Diktatur bis zum Zerfall hin abnutzte. Die SED lernte hier auf harte Art, dass Mauern Migration verzögern und erschweren können, dass es aber eine „Autonomie der Migration“ gibt, die auf Dauer selbst den Schutz per Stasi und Todesstreifen zu einer selbstzerstörerischen Steuerungsillusion werden ließen. Die innerdeutsche Migration prägte aber auch die westdeutsche Gesellschaft auf vielfältige Art. Anhand ihr wurde bereits in den frühen Teilungsjahren die seitdem immer wieder evidente Frage diskutiert, wer denn ein „echter“ Flüchtling sei und wer nicht. Der Mauerbau wiederum war entscheidend für die Einführung der Wehrpflicht und die Ablehnung der Unterdrückung von Ausreisewilligen führte in der Bundesrepublik zu einem starken, wohlgemerkt konservativen Menschenrechtsdiskurs. Es entstand das Selbstbild einer liberalen Gesellschaft, die sich als der gelebte Widerspruch zu gewalttätiger Grenzsicherung sah. Das hat m.E. sehr viel dazu beigetragen, dass zum Beispiel die Kirchen ein breites Menschenrechtsverständnis entwickelt haben, das sich nicht in einer strategischen Abgrenzung im Rahmen des Kalten Kriegs erschöpfte. Im Gesamten ist das Buch damit auch ein Versuch, an einem konkreten, grenzüberschreitenden Gegenstand eine im doppelten Wortsinne „geteilte Geschichte“ Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zu schreiben, die zahlreiche Grundannahmen über „Ost“ und „West“ an einem Thema zu hinterfragt, dass diese Einteilung durch Mobilität selbst konterkarierte. Für Willy Brandt ging mit dem Fall der Mauer ein Lebenstraum in Erfüllung. Heute werden vielerorts wieder Mauer und Grenzen errichtet. In Ihrem SPIEGEL-Bestseller „Hinter Mauern“ sprechen Sie über geschlossene Grenzen als Gefahr für unsere Gesellschaft. Wie kann Deutschland, wie kann Europa den Herausforderungen der Migration aus Ihrer Sicht besser begegnen? Hier gibt es viele mögliche Ansätze. Den Unterschied zwischen konstruktiven und deformierenden Ansätzen erkennt man allerdings anhand des Ideals der effizienten Migrationssteuerung, was schon sprachlich suggeriert, Migration sei so etwas wie Verkehr, den man in geordnete Bahnen führen kann. Und in der Tat sind dies Begriffe, die auch die Migrationsforschung längere Zeit genutzt hat. Aus heutiger Sicht könnten wir uns vielmehr fragen, was solche Denkfiguren und davon inspirierte Maßnahmen langfristig für unsere Gesellschaft bedeuten. Das Wichtigste wäre hier meines Erachtens die Einsicht, dass es keine „Lösung“ gibt. Migration ist kein „Problem“, sie ist ein Zustand. Die Rede von Krise und Problem führt zu Hoffnungen, dass man diese „beherrschen“ könne. Woher diese Hoffnung kommt, ist unklar. Vielmehr sollte man davon ausgehen, dass das Sterben an den Grenzen zunehmen wird, das rechte Politik sehenden Auges normalisiert wird und, dass Europa Gefahr läuft, durch gegenseitige Schuldzuweisungen politisch auszueinandertreiben. Wir sollten uns vor Augen führen, dass es in Politik und Gesellschaft Kräfte gibt, die genau dies wollen. Grenzen, das zeigt die gegenwärtige Forschung gerade auf vielfältige Art, eignen sich kaum zur Migrationsregulation. Sie sind aber Orte, an denen Hannah Arendt folgend das „Recht, Rechte zu haben“ exemplarisch auf die Probe gestellt wird. Ebenso ist es beim Asylrecht, das einzige Grundrecht, das „uns“ nicht direkt betrifft. Was an Grenzen geschieht, zeigt auf, wohin sich die Gesellschaft entwickelt. Sie sind Orte gelebter Souveränität, die eben im Einklang mit oder im Widerspruch zum internationalen Recht gestaltet werden können. In diese Richtung dachte auch Willy Brandt, als er in einer seiner letzten Reden mit dem Verweis auf „globale Klimaveränderungen“ und eine europäische Zuwanderungspolitik sagte: “Mit meiner Vorstellung von einem weltoffenen Europa würde sich Abschottung wahrlich nicht vereinbaren lassen.“ Die Frage nach den „Herausforderungen“ würde ich darum auf drei Ebenen beantworten. Die erste wäre das politische und sprachliche Eingeständnis, Migration nicht „lösen“, sondern nur in ziemlich begrenzter Art „gestalten“ zu können. Zweitens liegt sie in Gegenmaßnahmen zur schleichenden Erosion rechtsstaatlicher Grundsätze, sei durch die Loslösung politisch erwünschter Maßnahmen vom Streben nach den Menschenrechten, sei es in der fehlenden Strafverfolgung von Rechtsbrüchen durch Sicherheitsorgane. Wir sprechen hier nicht von Lappalien; wir sprechen von Schüssen auf Migrantinnen und Migranten oder sehr konkrete Vorwürfe, dass europäische Grenzschützer Menschen auf hoher See über Bord geworfen haben. Und drittens wirft Migration letztlich doch nur ein Licht auf anderweitige Missstände wie eine unterbesetzten Verwaltung, finanzschwache Kommunen, überlastetes Personal in den Schulen, der Polizei und der Justiz, schwere Zugänge zum Arbeitsmarkt und fehlende legale Einwanderungswege. Migration ist nicht die Ursache all dieser Probleme, sie zeigt sie auf. Welche Aufgaben warten in den nächsten Monaten auf Sie und worauf freuen Sie sich besonders? Derzeit interessiere ich mich besonders für die europäische „Intellectual History“ im doppelten Sinne, also wie in der europäischen Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft „Europa“ gedacht und geformt wurde. Dies war für Willy Brandt eine wichtige Frage, die sich in seinen zahlreichen Ideen für die Gestaltung Europas ebenso niederschlug, wie in seinen oft historischen Reflexionen darüber, was überwunden werden müsse. Dabei kam er in unterschiedlichen Phasen seines Lebens bzw. der Zeitgeschichte zu unterschiedlichen Antworten. Ich werde mich daran setzen, diese Ideen und Entwürfe historisch aufzuarbeiten. Mein erstes großes Projekt wird mit Willy Brandt auf Europa blicken und neben seinem Einfluss auf das sich einigende Europa auch nach jenen Ansätzen fragen, denen kein Erfolg vergönnt war. Es geht also um das Werden Europas, sowie um alternative Konzepte und die Frage nach linken Ideen für das europäische Projekt. Dazu werde ich als Wissenschaftler in das Team einsteigen, das die neue Dauerausstellung für das Willy-Brandt-Haus Lübeck entwickelt. Willy Brandts Wirken reflektieren, über Europa forschen und Ausstellungen entwickeln, da geht mir als Historiker das Herz auf. Im stillen Kämmerlein wird dies aber nicht gelingen. Darum freue ich mich ganz besonders auf die Arbeit im Team der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, das mit Verve Forschung und Public History zusammenführt. Historisches Denken und politisches Handeln im Sinne Willy Brandts verbinden zu können, ist mir eine große Ehre. Vielen Dank für das Gespräch. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit. PD Dr. habil. Frank Wolff war seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Neuesten Geschichte an der Universität Osnabrück und Mitglied des dortigen IMIS (seit 2019 Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte). Nach diversen Auslandsaufenthalten, Gastdozenturen und einer Max-Kade-Gastprofessur in German Studies an der University of Notre Dame leitete er 2023/24 die Forschungsgruppe „Internalizing Borders: The Social and Normative Consequences of the European Border Regime“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld. Er ist Autor einer in mehreren Sprachen und Auflagen erschienenen Monographie zur transnationalen Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung (zuletzt: Yiddish Revolutionaries in Migration: The Transnational History of the Jewish Labour Bund, Haymarket Books 2022) und zur deutschen Teilung (Die Mauergesellschaft: Kalter Krieg, Menschenrechte und die deutsch-deutsche Migration, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2019). Neben diesen beiden mit Preisen ausgezeichneten Büchern ist er Co-Autor des Spiegel-Bestsellers Hinter Mauern: Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft (edition suhrkamp 2023, mit Volker M. Heins). Er ist Herausgeber mehrerer Sammelbände und Special Issues wie zuletzt Academics in a Century of Displacement: The Global History and Politics of Endangered Scholars (Springer Science 2024). PD Dr. Frank Wolff Wissenschaftlicher Mitarbeiter E-Mail schreiben Telefon Icon 030 787 707 12 Umfrage Icon Lebenslauf Profil Weitere Neuigkeiten