Foto: Jens Jeske/BWBS

Tagungsbericht „Innere Einheit – Ein (un)erreichbares Ziel?”

Die Stiftung

Ursprünglich als Präsenzveranstaltung am 19. März 2020 zum 50. Jahrestag des ersten Treffens zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und DDR-Ministerpräsident Willi Stoph in Erfurt geplant, fand am 21. Oktober 2020 die erste digitale Fachkonferenz unserer Stiftung statt. Kooperationspartner waren der von der Universität Erfurt und der Friedrich-Schiller-Universität Jena in Zusammenarbeit mit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie der Stiftung Ettersberg gebildete Forschungsverbund „Diktaturerfahrung und Transformation: Biographische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er Jahren“ und die Geschichtsmuseen der Stadt Erfurt.

In der Konferenz widmeten sich acht Expert*innen aus der Geschichts-, der Politik- und der Kulturwissenschaft sowie der Soziologie und Ethnologie den prägenden Erfahrungen, Erinnerungen und Narrativen der Deutschen in Ost und West 30 Jahre nach der staatlichen Wiedervereinigung. Sie analysierten zum einen die politischen, ökonomischen und mentalen Determinanten und Faktoren, die den Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten 1989/90, die Transformation Ostdeutschlands und die gesamtdeutsche Entwicklung beeinflusst und seither bestimmt haben. Zum anderen gingen sie der Frage nach, wie es im Jahr 2020 um die so oft geforderte „Vollendung der inneren Einheit“ Deutschlands bestellt ist und ob diese Zielvorstellung überhaupt noch zeitgemäß ist.

Rund 150 Personen verfolgten via Livestream die Tagung und konnten sich per Livechat auch an den Diskussionen beteiligen. Die Komplettaufzeichnung der Konferenz ist auf dem YouTube-Kanal der Stiftung abrufbar. Die Einführung, die Vorträge und der Kommentar sowie die Abschlussdiskussion sind dort auch als einzelne Videos zu finden.

Programm (Videos als Vorträge über die Links)

  • Wolfgang Schmidt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Berlin: Einführung
  • Patrice Poutrus, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik der Universität Erfurt: Diktaturerfahrung und Transformation. Perspektiven auf die Lebenswelten und Biografien in der DDR
  • Franka Maubach, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Jena: Der große Umbruch. Gesellschaftskrise und Krisenerfahrung 1970-2010
  • Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin: Friedliche Revolution und Wiedervereinigung 1989/90. Die zeit­ge­nössischen Einstellungen und Erwartungen in Ost und West zur deutschen Einheit
  • Marcus Böick, Akademischer Rat bei der Professur für Zeitgeschichte am Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum: Anstalt für Ausverkauf und Abwicklung? Zur Rolle der Treuhand und ihrer (Erinnerungs-)Geschichte
  • Gert Pickel, Professor für Religions- und Kirchensoziologie am Institut für Praktische Theologie der Universität Leipzig: Getrennte Pfade, partielle Annäherung oder übergreifende Homogenität? Die politische Kultur im wiedervereinigten Deutschland 1990-2020
  • Irene Götz, Professorin für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München: Wer oder was wollen „die Deutschen“ heute und morgen sein? Über deutsche, europäische und andere Identitäten
  • Jörg Ganzenmüller, Professor für Europäischen Diktaturenvergleich an der Universität Jena: Kommentar
  • Abschlussdiskussion

In den Vorträgen und Diskussionen wurde hervorgehoben, wie stark die Meinungen der Ost- und Westdeutschen über die Wiedervereinigung und die Bilder, die sie wechselseitig voneinander haben, durch kollektive Narrative sowie durch Vorurteile und Klischees geprägt sind. Zugleich wurde aber festgestellt, dass die individuellen biografischen Erzählungen über die eigenen Erfahrungen mit der Einheit häufig von den kollektiven Narrativen abweichen. Ein Argument für mehr Differenzierung und für eine verstärkte Untersuchung der individuellen Geschichten der Ostdeutschen, die zudem mehr Anerkennung erfahren sollten.

Die Konferenzteilnehmer*innen waren sich auch einig, dass die Formel von der inneren Einheit überholt sei. Denn sie beinhalte die Vorstellung einer ethnischen und kulturellen Homogenisierung, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit eines Einwanderungslandes längst nicht mehr entspreche. Der Diskurs in der Gesellschaft und in der Wissenschaft sollte stattdessen die bestehende regionale und kulturelle Vielfältigkeit in Deutschland betonen und die Pluralität der Erzählungen und Erfahrungen der Deutschen abbilden, was nicht zuletzt auch migrantische Perspektiven einschließen müsse.

Livestream der Konferenz

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