Bernd Henningsen beim Vortrag
Foto: Jens Jeske

Vortragsveröffentlichung: Nach dem Sieg. Die Diskussion über Kriegs- und Friedensziele

Forum Berlin

Zur Premiere des Buchs „Nach dem Sieg. Die Diskussion über Kriegs- und Friedensziele“, das Willy Brandt 1944 im schwedischen Exil verfasste und das nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt, hielt der Politikwissenschaftler und Skandinavist Prof. em. Dr. Bernd Henningsen am 9. Mai 2023 im Forum Willy Brandt Berlin den folgenden Vortrag:

Zur Erinnerung

Im März 1933 floh der 19-jährige Herbert Frahm von Lübeck über Dänemark nach Oslo, wo er den „Kampfnamen“ Willy Brandt annahm. Nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens im April 1940 floh er weiter nach Stockholm, wo ihm im August desselben Jahres die norwegische Staatsbürgerschaft verliehen wurde: Am 5. September 1938 war er von den Nazis ausgebürgert worden und seither ein „Staatenloser“.

Mit diesen vier Zeilen sind die beiden konträren Pole der Willy-Brandt-Rezeption der 1950er und 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland markiert: Auf der einen Seite der enorme Respekt, ja die Verehrung gegenüber einem, der als sehr junger Mann im Angesicht der aufziehenden nazistischen Gewaltherrschaft mehr politischen Verstand besessen hatte als die überwältigende Mehrheit der Deutschen – selbst wenn man in Rechnung stellt, dass er bereits 1933 als dezidiert Linker und SPD-Abtrünniger in der SAPD (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschland) den Nazi-Verfolgungen ausgesetzt war und also dem politischen Verstand auch eine gehörige Portion Selbsterhaltungstrieb und Widerstandsgeist beigemischt war. Auf der anderen Seite die höhnische Verachtung, welche die politischen Lager spaltete: 1961 war Brandt bei der Bundestagswahl als Kanzlerkandidat der SPD gegen Konrad Adenauer angetreten, der auf einer Regensburger Wahlveranstaltung am 14. August, einen Tag nach dem Berliner Mauerbau, Brandts Exiljahre angesprochen und ihn „Brandt alias Frahm“ genannt hatte. Der Hinweis auf seinen Decknamen und seine uneheliche Geburt wurde seither zum Kern der politischen Herabwürdigungen: Adenauer wiederholte jene Formulierung immer wieder, die über die Stammtische Verbreitung fand. Franz Josef Strauß hatte bereits beim politischen Aschermittwoch im Februar 1961 in Vilshofen die rhetorische Frage zu Brandts Exil unter die Leute gebracht und den Verdacht des Vaterlandsverrats erhoben, von der konservativen Presse gerne wiederholt: „Eines wird man Herrn Brandt doch fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.“

1966 gab Günter Struve einige Texte Willy Brandts unter dem Titel „Draußen. Schriften während der Emigration“ heraus – eine vergleichbare Publikation des nur zwei Jahre jüngeren Strauß mit dem Titel „Drinnen“ gibt es indes nicht. In ihr hätte der CSU-Politiker offenlegen können, dass er während des Krieges sein Studium abgeschlossen hatte und Soldat im besetzten Frankreich und später in der Sowjetunion gewesen war, wo er mehrfach Zeuge von deutschen Massakern an Juden geworden war.

Mir ist diese Einordnung auch aus biografischen Gründen wichtig, wirft sie doch ein Licht darauf, warum viele Angehörige meiner Generation – auch ich – aus Empörung über das bürgerliche Lager und aus Bewunderung für Brandt damals zur SPD fanden und warum seine durch die Regierungsbeteiligung ab 1966 und die nachfolgende Kanzlerschaft belegte „Rehabilitierung“ zu einem so wichtigen Momentum in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte und auch in der eigenen Biografie wurde.

Dabei hätte man über die politischen Ansichten und den Charakter Willy Brandts auch dereinst schon viel Authentisches wissen können – wenn es dazu den politischen Willen gegeben hätte, noch besser, wenn man Norwegisch oder Schwedisch hätte lesen können oder wenn man neben englischen Übersetzungen das ins Deutsche übersetzte Buch „Der Krieg in Norwegen“ zur Kenntnis genommen hätte, das 1942 in Zürich und New York erschienen war. Seine Wegbegleiter und politischen Freunde wussten, wofür Brandt stand und was er „Draußen“ in den zwölf Jahren gemacht hatte. Die Norweger haben ihn, der er sich selber einen „Dreiviertel-Norweger“ nannte und bis an sein Lebensende hervorragend Norwegisch sprach, dafür verehrt. Erst über 60 Jahre nach dem Erscheinen in Oslo (1946) kam 2007 (ebenfalls von Einhart Lorenz ediert) auf Deutsch das Buch heraus, mit dessen Titel (denn den Inhalt kannte man ja nicht) in der Adenauerzeit Schindluder getrieben worden war: „Verbrecher und andere Deutsche. Ein Bericht aus Deutschland 1946“, mit dem Brandt gerade auf das bessere, „andere“ Deutschland abhob; in den allfälligen Kampagnen von rechts wurde es jedoch als Plädoyer für die These von einer vermeintlichen Kollektivschuld der Deutschen ausgegeben, der Titel dementsprechend falsch mit „Deutsche und andere Verbrecher“ übersetzt.

Norwegischer Pass, 1940 Willy-Brandt-Archiv im AdsD, Bonn
Norwegischer Pass, 1940
Willy-Brandt-Archiv im AdsD, Bonn

Einhart Lorenz weist in seiner aufschlussreichen Einleitung zu „Nach dem Sieg“ darauf hin, dass Willy Brandt in seinem Exil, also zwischen 1933 und 1945, 16 Bücher und Broschüren verfasst hat; er schrieb Artikel in 70 schwedischen Tageszeitungen, in der schweizerischen „Gewerkschaftlichen Rundschau“, für eine norwegische Exilzeitung und vieles andere mehr: „Kein anderer deutschsprachiger politischer Emigrant in Schweden war publizistisch derart produktiv“ (Lorenz). Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die zeitgeschichtliche Forschung (nicht nur in Deutschland), dass die politische und intellektuelle Vorgeschichte des späteren deutschen Kanzlers so wenig Interesse gefunden hat, wenn überhaupt. Dass dieses Buch und viele weitere Schriften erst nach seinem Tod und u. a. Dank des Engagements der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung erschienen sind, ist eigentlich der nächste Skandal.

In den 1930er Jahren beschäftigte sich Brandt in seinen Schriften und Aktivitäten intensiv mit dem Krieg und der Lage im besetzten Norwegen, in der schwedischen Exilzeit rückten dann die Kriegsziele und Fragen der Zukunft der Arbeiterbewegung ins Zentrum seines Interesses. Die große Zahl an Publikationen versetzt den heutigen Leser in Erstaunen und Bewunderung – hinzu kommt die schier unermessliche Menge an Informationen, die er darin ausbreitet und verarbeitet. Er kann die Zahlen der Opfer nennen, der Gefallenen, der Migranten, und dies trotz fehlender Reise- und Kontaktmöglichkeiten während der Kriegsjahre und – das sei trotz der offenkundigen Banalität aufgeschrieben – ohne Google und Internet. Ausgewertet hat er die in öffentlichen Bibliotheken, Gewerkschaftshäusern und Parteikontoren zugänglichen Periodika zunächst in Oslo, dann in Stockholm; die Treffen mit Parteigängern und mit Widerstandsgruppen waren sicher auch eine wichtige Informationsquelle. Bruno Kreisky, Mitemigrant in Schweden, schrieb später, Brandt sei „damals der Inbegriff des politischen Verstandes in dieser Zeit und darüber hinaus eine politische Führungskapazität“ gewesen. Und zu „Nach dem Sieg“ schrieb er, das Buch sei ein „wesentliches“ Ergebnis der „nicht endendenden Diskussion um die Frage, wie Europa nach dem Krieg aussehen solle“ – Kreisky schrieb dies also in Kenntnis der schwedischen Originalausgabe „Efter Segern“.

„Nach dem Sieg“

„Efter Segern“ erschien im Frühjahr 1944 im Stockholmer Verlag Bonniers mit 288 Seiten in einer Auflage von 2.200 Stück, und noch im selben Jahr kamen eine finnische und eine nicht ganz identische dänische Ausgabe (im Typoskript auf 159 Seiten) heraus. Die nun vorliegende erste komplette deutsche Druckausgabe hat 212 Seiten, plus Anhang mit Literaturverzeichnis und Register. Vorangestellt ist eine exzellente Einleitung von Einhart Lorenz, in der er über das Buch und den Autor berichtet; wichtige Ereignisse und Personen werden in den Fußnoten vorgestellt. Einige Passagen des Buches sind bei Günter Struve in „Draußen“ abgedruckt, und in Band 2 der Berliner Ausgabe („Zwei Vaterländer“ aus dem Jahr 2000) finden sich ebenfalls einige Kapitel des Buches.

Zum Zeitpunkt der Abfassung bzw. der Veröffentlichung des Buches stellte sich die Kriegssituation wie folgt dar: Am 31. Januar 1943 hatte die 6. Armee unter General Paulus in Stalingrad kapituliert, womit der Zweite Weltkrieg und das NS-Regime an einen entscheidenden Wendepunkt gelangt waren. Die Überzeugung gewann Platz, dass das Ende eingeläutet war; das Heft des Handelns lag nun in den Händen der Alliierten, daran konnte auch Goebbels´ Rede vom „totalen Krieg“ im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 nichts mehr ändern. Die deutsch-italienischen Afrikatruppen kapitulierten im Mai, im Juli begann die alliierte Invasion auf Sizilien, Mussolini wurde abgesetzt, die Achse Berlin–Rom war gebrochen. Die alliierte Normandie-Invasion im Juni 1944 und das Attentat auf Hitler im Juli lagen nach Brandts Redaktionsschluss.

Redner Willy Brandt und Maurycy Karniol (r.) bei einem Treffen der „Kleinen Internati-onale“ in Stockholm, 1. Mai 1943 © Arbetarrörelsens arkiv och bibliotek, Stockholm
Redner Willy Brandt bei einem Treffen der „Kleinen Internationale“ in Stockholm, 1. Mai 1943
© Arbetarrörelsens arkiv och bibliotek, Stockholm

In sechs Abschnitten verhandelt Willy Brandt u. a. Fragen des Wiederaufbaus, der Ersten Hilfe, Pläne der kollektiven Sicherheit – etwa zu den Vereinigten Staaten von Europa, zu einem neuen Völkerbund, zur Zukunft der Kolonien und zu Fragen der Souveränität; er diskutiert den Umgang mit Deutschland nach dem Ende des Krieges, mit Kriegsverbrechen, Reparationszahlungen und Kunstraub. Auch die Neuziehung von Grenzen nimmt er in den Blick, die Verschiebung Polens von Osten nach Westen und nicht zuletzt eine bevorstehende Massenmigration nach dem Rückzug der deutschen Truppen aus den besetzten Gebieten. Dass er auch immer wieder zu China, Japan und Indien referiert, dass er Ceylon, Niederländisch-Indien und Burma erwähnt, überrascht dann kaum noch. Ich kann und will hier nicht alle Details aufzählen, die er anspricht; Beispiele müssen genügen – denn, so Brandt: „Die Absicht ist nicht, die Zahl privater Pläne zur Rettung der Welt um ein weiteres Exemplar zu erhöhen. Ich habe mich damit begnügt, eine Übersicht über die internationale Debatte zu den Kriegs- und Friedenszielen zu liefern.“

„Zeugnis für das andere Deutschland“

Wenn man heute, im Wissen um die Schmutzkampagnen der 1950er und 1960er Jahre gegen Willy Brandt, sein Buch „Nach dem Sieg“ liest, dann muss man sich wundern: Der Band ist keineswegs ein politisch eingefärbtes Pamphlet, wie es die Anschuldigungen zu Brandts Aktivitäten im Exil suggerierten, sondern vielmehr eine materialgesättigte Chronik der auf alliierter Seite geführten Diskussionen über deren jeweilige und über die gemeinsamen Kriegs- und Nachkriegsziele. Der Autor Brandt ist ein Berichterstatter, kein politischer Propagandist, schon gar kein Prophet: In der Regel bezieht er sich auf Ereignisse, Konferenzen und Dokumente bis zum Jahr 1943, an drei Stellen erwähnt er Quellen, die vom Februar 1944 stammen, und sein Vorwort ist mit März 1944 datiert. Wenn eine eigene Meinung herauszulesen ist, dann ist sie milde sozialistisch gefärbt, insbesondere vor dem Hintergrund der offensichtlich bevorstehenden deutschen Niederlage und nicht zuletzt auch im Wissen um die NS-Verbrechen vor und während des Krieges. Brandts Abscheu gilt dem Militarismus und insbesondere dem „Hitlerismus“ – nicht Deutschland per se; die These von der Kollektivschuld der Deutschen lehnt er ab, vor alliierter Rache und vor einer Wiederholung des Geistes von Versailles warnt er, denn: „Eine falsche Besatzungspolitik könnte das sicherste Mittel sein, um die Deutschen in eine feste Allianz mit den Bolschewiken“ zu treiben.

Als Günter Struve 1966 den erwähnten Band „Draußen“ herausgab, in dem einige Passagen aus „Nach dem Sieg“ zum ersten Mal auf Deutsch abgedruckt wurden, konnte man in einer Rezension unter der Überschrift „Zeugnis für das andere Deutschland“ lesen, dass Brandt „sich stets als leidenschaftlicher Anwalt der deutschen Sache gefühlt und sich auch so verhalten hat. Die Schriften zeigen auch, wie Brandt vom jungen politischen Flüchtling in den Emigrationsjahren zum Politiker von internationalem Format gereift ist“. Mit Brandts eigenen Worten vom August 1943: „Ich fühle mich Norwegen mit tausend Banden verbunden, aber ich habe niemals Deutschland – das andere Deutschland – aufgegeben. Ich arbeite dafür, den Nazismus und seine Bundesgenossen in allen Ländern zu vernichten, damit sowohl das norwegische als auch das deutsche Volk und alle anderen Völker leben können. Ich habe im Laufe dieser Jahre zweimal das Vaterland verloren. Ich arbeite dafür, zwei Vaterländer wiederzugewinnen – ein freies Norwegen und ein demokratisches Deutschland. Der Tag wird kommen, an dem der Hass (…) überwunden wird. Einmal muss das Europa Wirklichkeit werden, in dem die Europäer leben können.“

Stein des Anstoßes in den Diskreditierungskampagnen der Nachkriegszeit waren auch Äußerungen Brandts zur Judenfrage und zum Zionismus – in diesem Buch wie auch in anderen Publikationen. Entgegen mancher Unterstellungen ist von Antisemitismus (von dem die linke Bewegung der Zeit nicht frei war) bei Brandt nichts zu finden. Auch wenn er dem Herzl-Zionismus gegenüber zunächst kritisch eingestellt war, äußert er sich in „Nach dem Sieg“ sehr positiv zum Wunsch der Juden, einen eigenen Staat in Palästina gründen zu dürfen. Brandt war überdies einer der ersten, der schon 1942 von den Verbrechen an den europäischen Juden in die USA berichtete. Das ganze Ausmaß der industriellen Massenvernichtung offenbarte sich ihm allerdings erst durch seine Teilnahme am Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46 – ein Thema, das er in „Verbrecher und andere Deutsche“ verarbeitete.

Pragmatismus vs. Sozialismus

Günter Struve stellte in seinem Vorwort zu „Draußen“ fest, dass Brandts Schreiben und Agieren während des Exils einen „norwegischen“ und einen „deutschen“ Strang aufweise: „Was für die deutschen Freunde geschrieben wurde, erscheint zwangsläufig theoretisch, verglichen mit dem pragmatischen Sozialismus des Sekretärs der norwegischen Volkshilfe.“ Das „sozialistische Idealschema“, mit dem er nach Norwegen kam, wich unter dem Eindruck der Erfahrungen von Exil und Krieg einer zunehmend realistischen und pragmatischen Perspektive – „zum Sektierer taugte er nicht“. Willy Brandt selbst hat diese Entwicklung ausführlich in seiner Biografie „Links und frei“ von 1982 beschrieben. Und in seinen „Erinnerungen“ von 1989 berichtet er im Kapitel „Schule des Nordens“ eingehend und mit Empathie von den so ganz anderen Lebenswelten, in die er seit 1933 in Oslo eingetaucht war und denen er ein Leben lang verbunden blieb.

Vom „sozialistischen Idealschema“ übriggeblieben sind dann aber doch die ökonomischen Erklärmuster für Krieg, Faschismus und Militarismus – wenn er etwa schreibt, dass der „Faschismus aus Armut und Arbeitslosigkeit geboren wurde. Wir müssen uns feierlich dazu entschließen, in unserer Zukunftsordnung keine wirtschaftlichen Missstände zu dulden, die Armut und Krieg erzeugen“. Für Amerika sei zu hoffen, dass „es seine inneren Probleme meistern kann und es versteht, eine neue schwere Wirtschaftskrise abzuwenden. Kommt es zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch, ist nicht auszuschließen, dass Amerika seinem eigenen Faschismus entgegengeht (…).“ Am Ende des Kapitels über die „Erste Hilfe“ schreibt er: „Die Hilfe, die am meisten lohnt, besteht darin, das Wirtschaftsleben in den verschiedenen Ländern so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu stellen.“ Konsequenterweise sprach er sich auch gegen Reparationsleistungen nach dem Krieg aus, denn sie schwächten die Wirtschaftsleistungen, auf die für den Wiederaufbau Deutschlands und Europas nicht verzichtet werden könne – von den politischen Folgen, die der Versailler Vertrag gezeitigt hatte, einmal ganz abgesehen.  Auch diskutiert Brandt die politischen und gesellschaftlichen Folgen des Zusammenbruchs aus wirtschaftlichen Zwängen: „(…) die militärische Niederlage und der Zusammenbruch des Nazismus“ werde nach seiner Überzeugung „starke, spontane Volksbewegungen auslösen (…). Es ist offensichtlich, dass die Volkserhebung nach dem Faschismus neben den nationalen und demokratischen auch starke sozialrevolutionäre Triebkräfte haben wird. Zwar ist recht klar, wo das anfängt, aber ziemlich nebulös, wo es enden wird.“ Auf jeden Fall aber werde die „gesellschaftliche Kontrolle der Industrie“ eine natürliche Konsequenz der „ernsthaften antinazistischen Bewegung“ sein.

Dass es nach Ende des Krieges zu einer demokratischen, aber auch blutigen Erhebung kommen werde, ist eine Prophezeiung, auf die Brandt in „Nach dem Sieg“ mehrfach zurückkommt: „Die Situation nach dem Waffenstillstand wird eine revolutionäre sein.“ Mit dieser Prognose lag Brandt, wie wir heute wissen, falsch: In einigen vormals besetzten Ländern gab es solche Erhebungen zwar, in Deutschland aber nicht. Brandt warnte auch vor der Möglichkeit, „dass SS-Truppen und andere fanatische Nazis noch eine gewisse Zeit nach der Kapitulation der Wehrmacht im eigenen Land weiterkämpfen werden.“ Dies zu verhindern, liege in der Verantwortung der Siegermächte.

Europa

Schon im Manuskript von Brandts Buch „Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa“, das im Frühjahr 1940, am Tag des deutschen Überfalls auf Norwegen, erschien und daher umgehend vernichtet und verboten wurde, findet sich das Kapitel „Europas Vereinigte Staaten“; in „Nach dem Sieg“ knüpft er daran an. Mit Nachdruck plädiert Willy Brandt für ein geeintes Europa. Die Notwendigkeit dazu ergebe sich aus dem bevorstehenden Rückzug der USA, deren Konzentration auf den Pazifik und aus den erforderlichen Anstrengungen für den Wiederaufbau nach dem Krieg. Ein weiterer wesentlicher Grund für ein geeintes Europa liegt aus seiner Sicht in Deutschland: „(…) die Diskussion über das deutsche Problem führt (…) logischerweise zu europäischen Lösungen. Die Bildung einer europäischen Organisation für die Kohle- und Eisenindustrie würde Deutschlands Hegemonie auf diesem Gebiet aufheben. Dasselbe wäre bei einer Europäisierung der chemischen Industrie der Fall. Die Linie der Friedenssicherung trifft sich hier mit der wirtschaftlich rationalen Linie.“ Seine Europa-Überlegungen des Jahres 1944 – die Einbettung Deutschlands in Europa, nicht in einen atlantischen Westen – sind insofern interessant, als Brandt sich damit weder auf der Linie der SPD der Nachkriegszeit (erst recht nicht der nationalen Linie Kurt Schumachers) noch auf der Linie Adenauers bewegte.

Brandt lenkt den Blick nicht nur auf die „großen“ Akteure und Namen – Großbritannien, Amerika, die Sowjetunion –, sondern auch auf die Widerstandsbewegungen und die im Exil lebenden Personen. Ein hübscher Nebensatz zu Österreich findet sich auf Seite 59. Nachdem er im Abschnitt zuvor die österreichische Mitschuld herausgestrichen hat („Die Österreicher wurden (…) daran erinnert, dass sie eine Verantwortung für die Kriegsteilnahme an der Seite Deutschlands tragen, der sich das Land nicht entziehen kann“), schreibt Brandt: „Die österreichischen Sozialdemokraten neigten eigentlich weniger dazu, den Lockrufen aus Berlin zu lauschen, als gewisse Lords und englische Labour-Pazifisten.“ Der hier angeschnittene Anti-Appeasement-Tenor des Buches macht es auch interessant für uns Heutige: Ein „Friedensbewegter“ war Willy Brandt im Krieg ganz gewiss nicht, Pazifismus galt ihm als „Illusion“. In diesem Zusammenhang sehe ich auch seine Bemerkung, dass die „Nachgiebigkeit des Auslands einen Teil des Fundaments der deutschen Opposition“ fortgerissen habe: „Die Passivität wurde durch das Gefühl genährt, dass man einer Naturgewalt gegenüberstehe, gegen die zu kämpfen hoffnungslos sei.“

Das Buch ist eine trockene Angelegenheit. Seine Faszination gewinnt es aus den politischen Umständen, unter denen es geschrieben wurde und die der Autor behandelt. An einer einzigen Stelle findet sich ein frecher, ironischer Ton, und zwar dort, wo Brandt der Frage nachgeht, warum ein solches Regime ausgerechnet die Deutschen so fest im Griff haben konnte, verglichen mit anderen Ländern. Den Grund sieht er im Preußentum und: „Der deutsche Faschismus wurde so stark, weil Deutschland ein großes, hochindustrialisiertes und durchorganisiertes Land ist.“ Und zum Vergleich führt er an: „Aber sogar der österreichische ‚Schlamperfaschismus‘ war mächtig genug, um eine starke Arbeiterbewegung niederzuschlagen.“ In der dänischen Ausgabe findet sich dieser Begriff ebenfalls, nur leicht danisiert. Einhart Lorenz verweist in einer Fußnote darauf, dass es sich wohl um eine Wortschöpfung Brandts handelt, die er in einer Bundestagsdebatte am 15. Juli 1952 auch auf das Franco-Regime anwendete: „der falangistische Schlamper-Faschismus“.

Relevanz

In „Nach dem Sieg“ referiert Willy Brandt vor allem die alliierten Nachkriegspläne und die der besetzten Länder; nur selten kommentiert er sie auch. In der Regel handelt es sich um Wiedergaben und Synthesen der damals kuranten Ideen und Projekte – von denen dann in der Tat auch einige umgesetzt wurden. Manche der damals prognostizierten Entwicklungen sind hingegen nicht eingetroffen.

Der Wert dieser „Diskussion über die Kriegs- und Friedensziele“ beruht in den von Brandt ausgebreiteten Details und in der Synopse. Wir erfahren, was bis 1944 von den diversen Akteuren an Ideen und Zielen vorgebracht worden war, der Autor selbst steht eher im Hintergrund. Ein ausgefeiltes Programm für Nachkriegsdeutschland oder gar für die internationale Ordnung liefert er nicht. Die Bedeutung des Buches liegt darin, endlich auch auf Deutsch die politische und intellektuelle Entwicklung Brandts ebenso wie die im Krieg noch möglichen Kommunikationswege nachvollziehen, ja beforschen zu können. „Nach dem Sieg“ ist eine Fundgrube für die Forschung, und es ist auch – im Wissen um die erwähnten Hinterhältigkeiten der politischen Gegner Brandts – ein Dokument zur Kulturgeschichte der frühen Bundesrepublik. Ein Rätsel bleibt, warum Brandt, der sehr wohl unter den politischen Diffamierungen und Unterstellungen gelitten hat, sich nicht mit Verve dagegen wehrte. Mag sein, dass ihm die Konzentration auf sein politisches Programm und seine Überzeugungen wichtiger waren als die persönlichen Kränkungen. Wenn das ein Grund war, dann bewies er damit ein weiteres Mal mehr politischen Verstand und mehr menschliche Stärke als seine Widersacher. Insofern war sein weltweit und bis heute bewunderter Kniefall in Warschau 1970 eine konsequente Fortsetzung des im Exil Gedachten und Erlittenen. Er schwieg, weil der Kniefall und die Pöbeleien für sich selbst sprachen und keiner Erklärung bedurften. All das gehörte zu seinem Charisma.

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Willy Brandt
Nach dem Sieg. Die Diskussion über Kriegs- und Friedensziele
Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Einhart Lorenz
Willy Brandt – Studien und Dokumente, Band 4
Campus, Frankfurt am Main 2023

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