Photo: Bundesregierung/ Detlev Gräfingholt

50 Jahre Misstrauensvotum gegen Willy Brandt

The Foundation

Im Frühjahr 1972 erreichte die Auseinandersetzung um die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition ihren Höhepunkt. Nach Übertritten mehrerer SPD- und FDP-Abgeordneter zur Opposition glaubte der CDU-Partei- und Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel eine Mehrheit im Bundestag zu haben. Durch ein konstruktives Misstrauensvotum wollte er Brandt am 27. April 1972 als Bundeskanzler ablösen und in der Folge die Ratifizierung der Ostverträge verhindern. Gespannt verfolgten Millionen Deutsche die Debatte und die Abstimmung in Bonn. Völlig unerwartet scheiterte Barzel, denn zwei Stimmen fehlten für das Misstrauensvotum. Gerüchte über Bestechungen machten die Runde. Erst nach 1990 wurde enthüllt, dass die DDR zwei Abgeordneten der CDU/CSU 50.000 DM gezahlt hat, um Brandt im Kanzleramt zu halten.

Bundesweit kam es am 27. April zu Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen gegen das Misstrauensvotum. Während der Abstimmung im Bundestag stand die Republik still. 400.000 Menschen streikten und demonstrierten gegen das Vorhaben der CDU und CSU, den beliebten Kanzler zu stürzen. Die Aktionen entstanden von unten, vor allem in den Betrieben, und waren weder von den Gewerkschaften noch von der SPD zentral organisiert. Die zahlenmäßig größten Proteste ereigneten sich im Ruhrgebiet, aber sie erfassten das gesamte Bundesgebiet, von Flensburg bis München.

Die heute fast vergessenen Demonstrationen gegen das Misstrauensvotum waren eine der größten Protestwellen in der Geschichte der alten Bundesrepublik. Ihre zentrale Forderung lautete „Willy Brandt muss Kanzler bleiben!“. Dies ist auch der Titel des neuen Buchs von Bernd Rother, das soeben in unserer neuen Reihe „Willy Brandt – Studien und Dokumente“ im Campus Verlag erschienen ist. Anlässlich der Neuerscheinung sprach Kristina Meyer mit dem Autor über sein Buch in der Podcast-Reihe „Campus Chat – Wissenschaft im Gespräch“.

Erstmals öffentlich präsentiert wird das Buch »Willy Brandt muss Kanzler bleiben!«  Die Massenproteste gegen das Misstrauensvotum 1972 am heutigen Abend im Forum Willy Brandt Berlin. Nach einer kurzen Vorstellung seiner zentralen Thesen wird Bernd Rother mit der SPD-Bundestagsabgeordneten und Juso-Vorsitzenden Jessica Rosenthal über das historische Ereignis und seine bleibende Bedeutung diskutieren. In den Blick geraten soll dabei auch die Frage, wie politisches Engagement „von unten“ bzw. außerhalb von Parteien und Parlamenten heutzutage funktioniert. Die Veranstaltung wird als Livestream auf dem YouTube-Kanal der Stiftung übertragen. Am 4. Mai reist Bernd Rother ins Willy-Brandt-Haus Lübeck zu einer weiteren Buchpräsentation (Link) und anschließenden Diskussion mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Tim Klüssendorf.

In Lübeck lädt das Willy-Brandt-Haus heute zudem ein zu einem kostenfreien Screening des Films „Die Geheimnisse des schönen Leo“ über den CSU-Abgeordneten und Strauß-Vertrauten Leo Wagner, einer der Schlüsselfiguren für das Scheitern des Misstrauensvotums.

Das Misstrauensvotum und die Reaktionen in Ost- und Westdeutschland sind zudem Thema einer Interview-Reihe des Vorwärts, der mit Bernd Rother, unserem Kuratoriumsvorsitzenden Wolfgang Thierse sowie mit Gesine Schwan gesprochen hat. Neben einer Vielzahl an Artikeln und Berichten zum Jahrestag empfehlen wir zudem das DLF-Kalenderblatt am 27. April sowie ein DLF-Feature mit Bernd Rother im Interview.

Und in der Reihe “Game Changing 1972” nehmen sich Mirja von Borcke und Emma Schey – jugendliche Museumsführerinnen aus dem Projekt „Schüler führen Schüler“ – in der Ausstellung des Willy-Brandt-Hauses Lübeck dem Jahrestag an, und berichten, warum die Bundesrepublik beim konstruktiven Misstrauensantrag gegen Bundeskanzler Brandt auf einmal stillstand.

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