Vera Jourová, die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, hält die Willy Brandt Lecture im Allianz Forum in Berlin. Sie steht hinter einem Rednerpult.
Foto: Jens Jeske

Die Stiftung im Jahr 2023

Die Stiftung

Der Jahresbericht 2023 liegt vor – erstmals auch als barrierefreies PDF. Außerdem wurden die Highlights des letzten Jahres digital aufbereitet. Wir wüschen eine anregende Lektüre.

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Die Hoffnung auf Frieden hat sich auch im Jahr 2023 nicht erfüllt, ganz im Gegenteil. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine geht mit unverminderter Brutalität weiter. Die Welt ist schockiert über den grausamen Terrorüberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober und blickt zugleich mit großer Sorge auf die bedrückende Situation der Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Ob ein Flächenbrand im Nahen Osten verhindert werden kann, vermag kaum jemand vorherzusagen.

Das vereinte Europa, Willy Brandts wichtigstes außenpolitisches Projekt neben der Neuen Ostpolitik, steht in Anbetracht zahlreicher Krisen und Konflikte gegenwärtig vor großen Herausforderungen. Das fünfte und vorletzte Jahr unseres Jubiläumsprogramms in Erinnerung an Brandts Kanzlerschaft stand 2023 – 50 Jahre nach dem Beitritt Dänemarks, Großbritanniens und der Republik Irland zur Europäischen Gemeinschaft – unter dem Motto „Europa”. Damals zählte Willy Brandt zu den treibenden Kräften einer Erweiterung der EG und zur Vertiefung der politischen wie wirtschaftlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. In einer Grundsatzrede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg forderte er am 13. November 1973, dass Europa die eigenen Interessen in der Welt selbstbewusster vertreten und vor allem außenpolitisch mit einer Stimme sprechen müsse.

Programm-Highlights in Berlin

Im Mittelpunkt des Stiftungsprogramms im Forum Willy Brandt Berlin standen neben Brandts europapolitischen Zielen und Errungenschaften auch Bezüge zu aktuellen Entwicklungen in der Europäischen Union. Ein Höhepunkt im Berichtsjahr war die »Willy Brandt Lecture im Allianz Forum am Pariser Platz. Die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Věra Jourová, widmete sich in ihrer Rede den Maßnahmen zur Sicherung freier und fairer Wahlen zum EU-Parlament im Jahr 2024. Im Fokus stand die Gefahr einer Destabilisierung Europas durch rechtspopulistische Bewegungen und Regierungen, aber auch die wachsende Bedrohung durch gezielte Desinformation und Cyber-Attacken. Im Anschluss an ihre Lecture diskutierte Věra Jourová mit Michael Roth (SPD), dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags.

Das Willy-Brandt-Gespräch 2023 am 19. Oktober mit Tanja Gönner, Lars Klingbeil, Didi Kirsten Tatlow und Jürgen Trittin. Moderation: Harald Asel

Ebenfalls passend zum Motto „Europa“ widmete die Stiftung das diesjährige »Willy-Brandt-Gespräch den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und China. Zu den Gesprächsgästen zählten unter anderen der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil sowie Jürgen Trittin, der außenpolitische Sprecher der Fraktion B´90/Die Grünen im Bundestag. Unserem Medienpartner rbb24 Inforadio sind wir für die nun schon seit vielen Jahren andauernde und bewährte Zusammenarbeit bei diesem Format sehr dankbar.

Einen Beitrag zur Unterstützung von Demokratie und Menschenrechten leistet die Stiftung seit einigen Jahren durch die Kooperation mit dem Human Rights Film Festival Berlin. Der »Willy-Brandt-Dokumentarfilmpreis für Freiheit und Menschenrechte, mit dem an die politischen Leistungen und das Lebenswerk Willy Brandts erinnert wird, wurde an den Film „While We Watched“ des indischen Regisseurs Vinay Shukla verliehen. Der Film porträtiert den bekannten indischen Journalisten Ravish Kumar, der sich dem Hindu-Nationalismus entgegenstellt und gegen alle Widerstände für Meinungs- und Pressefreiheit einsteht.

Willy-Brandt-Rede Lübeck 2023 des Publizisten Michel Friedman am 18. Dezember im Kolosseum

Ein leidenschaftliches und mitreißendes Plädoyer für die Demokratie hielt der Publizist Michel Friedman in der »Willy-Brandt-Rede Lübeck, einem der Höhepunkte des vielseitigen Programms unseres Hauses in der Hansestadt. Die westlichen Demokratien, so Friedman, befänden sich „mitten in der gefährlichsten Phase seit 1945″. Die gegenwärtige Entwicklung in Deutschland und vielen anderen Staaten zeige, wie fragil und bedroht Freiheit und Demokratie seien. Keine politische Position, keine Religion oder Ideologie rechtfertige Hass und Menschenfeindlichkeit. Die Menschen müssten aufstehen für Demokratie und Toleranz, bevor es zu spät sei. Friedman sprach vor einem bis auf den letzten Platz besetzten Lübecker Kolosseum – und das Publikum reagierte mit stehenden Ovationen auf seinen bemerkenswerten Vortrag. Seit 2009 ist die Willy-Brandt-Rede Lübeck ein Gemeinschaftsprojekt mit der Hansestadt. Kuratorium und Vorstand unserer Stiftung sind Bürgermeister Jan Lindenau für seine Worte des Dankes und der Anerkennung in seiner Begrüßungsrede sehr dankbar: Die Etablierung des Willy-Brandt-Hauses als Lernort für Zeitgeschichte und Demokratie sei eine der besten Entscheidungen in der jüngeren Geschichte der Stadt gewesen, so Lindenau.

Hoher Besuch im Willy-Brandt-Forum Unkel

Am neuen Standort der Stiftung in Unkel wurde die Integration des Willy-Brandt-Forums im zurückliegenden Jahr abgeschlossen. Alle vom Deutschen Bundestag bewilligten Stellen sind besetzt, und eine funktionsfähige Geschäftsstelle wurde aufgebaut. Die Besetzung der Stelle für den Bereich Bildung und Vermittlung hat einen intensiven Ausbau aller pädagogischen Aktivitäten in und um die Dauerausstellung möglich gemacht. Die Vernetzung des Forums mit Akteuren und Institutionen in der Region wird beständig ausgebaut. Der im September 2021 zwischen der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung und der Bürgerstiftung „Willy-Brandt-Forum Unkel” geschlossene Kooperationsvertrag, der ein gemeinsames Veranstaltungsprogramm im Forum vorsieht, füllt sich in Form von Vorträgen, Buchpräsentationen und Sonderausstellungen spürbar mit Leben.

Bundespräsident Steinmeier und der finnische Staatspräsident besuchen das Willy-Brandt-Forum Unkel
Scott H. Krause, Karsten Fehr, Brigitte Seebacher, Elke Büdenbender, Präsident Sauli Niinistö, Jenni Haukio, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Gerhard Hausen, Hanns Bölefahr und Ulrich Schöler in Unkel

Zum Jahresende konnte sich unser junges Unkeler Stiftungsteam außerdem über prominente Besucher freuen: Am 16. November kamen »Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und sein finnischer Amtskollege Sauli Niinistö in Begleitung ihrer Ehefrauen nach Unkel und ins Willy-Brandt-Forum. Die Reise nach Unkel fand im Rahmen eines Staatsbesuchs des finnischen Präsidenten statt, der die enge Partnerschaft beider Länder seit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen vor 50 Jahren würdigte. Ein weiteres Highlight war am 5. Dezember der »Willy-Brandt-Vortrag Bonn, der jährlich in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Universität Bonn stattfindet. Redner war in diesem Jahr ein unerschrockener Kämpfer für die Meinungs- und Pressefreiheit: der russische Journalist und Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratov. Dankbar sind wir auch dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, der in Unkel einen »Vortrag zum Thema „Zeitenwende – Sozialdemokratische Außenpolitik im 21. Jahrhundert” hielt. Außerdem stellte unser Kuratoriumsmitglied Brigitte Seebacher in Unkel ihr umfangreiches neues »Buch „Hundert Jahre Hoffnung und ein langer Abschied. Zur Geschichte der Sozialdemokratie“ vor.

Der Friedensnobelpreisträger und Journalist Dmitri Muratov hält den Willy-Brandt-Vortrag in Bonn. Er steht an einem Rednerpult und hält mit der rechten Hand ein Foto einer Oppositionellen hoch.
Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratov beim Willy-Brandt-Vortrag Bonn

Unsere Ausstellungen und Willy Brandt on Tour

Die Besucherzahlen in unseren Dauerausstellungen in Berlin, Lübeck und Unkel haben sich nach dem Ende der Pandemie wieder auf normalem Niveau stabilisiert. In den historisch-politischen Bildungsprogrammen aller drei Standorte wurden vor allem die inklusiven Angebote ausgeweitet. So bietet das Forum Berlin neuerdings Tastführungen sowie Begleitmaterial in leichter Sprache an. Das bereits in Lübeck etablierte inklusive Format „Bei Anruf Kultur“ wurde ausgebaut, und nach einem umfassenden Relaunch ist die Homepage der Stiftung inzwischen weitgehend barrierefrei.

Unterdessen setzen unsere beiden Wanderausstellungen ihre ausgedehnten Tourneen fort. In Deutschland machte die große Wanderausstellung in Hannover, Kiel, Koblenz und Mannheim Halt. Die internationale Ausstellung reiste nach Abschluss der letzten Station in Spanien weiter nach Portugal, wo sie in Lissabon von Ministerpräsident Antonio Costa eröffnet wurde. Das große Interesse auf der iberischen Halbinsel belegt, wie viele Menschen sich dort auch heute noch mit Willy Brandt verbunden fühlen, weil er sich für die Etablierung der Demokratie in beiden Ländern engagiert und ihrer Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft mit den Weg bereitet hat.

Nicht weniger hoch ist das Ansehen Willy Brandts bis heute in Südkorea: Seine Neue Ostpolitik war das Vorbild für die sogenannte „Sonnenscheinpolitik“ von Präsident Kim Dae-jung gegenüber Nordkorea vor einem Vierteljahrhundert. Im September 2023 luden die Kim-Dae Jung Presidential Library und die Yonsei Universität unsere Stiftung zu einem großen World Leader Symposium nach Seoul ein, in dessen Mittelpunkt das politische Wirken der drei Friedensnobelpreisträger Willy Brandt, Kim Dae-jung und Nelson Mandela stand.

Im Berichtsjahr fanden an den drei Stiftungsstandorten zahlreiche weitere Veranstaltungen statt, die hier nicht alle aufgeführt werden können. Die seit vielen Jahren bewährte gemeinsame Veranstaltungsreihe mit dem Institut für Zeitgeschichte München–Berlin konnte durch die Neuausrichtung im Format „Zeitgeschichte im Dialog“ erfolgreich fortgesetzt werden. Im Rahmen der Forschungsförderung wurde ein letztes Mal ein »Willy Brandt Small Research Grant vergeben. Am 8. Oktober stimmte das Kuratorium dem Vorschlag der Auswahlkommission zu, den »Willy-Brandt-Preis für Zeitgeschichte 2023 an die französische Germanistin Pénélope L. Patry zu vergeben. Sie hat sich in ihrer Dissertation mit der Ausformung der frühesten europapolitischen Vorstellungen Willy Brandts im Exil beschäftigt. Mitbetreut wurde diese Arbeit vom deutsch-norwegischen Historiker Einhart Lorenz, der bereits an der „Berliner Ausgabe“ mitgewirkt hat und von 2008 bis 2018 Mitglied unseres Internationalen Beirats war. 2023 hat er sein inzwischen fünftes Buch für die Stiftung vorgelegt: die erstmals in deutscher Übersetzung vorliegende Fassung von Willy Brandts Buch »„Nach dem Sieg“ („Efter Segern“, erschienen 1944 in Stockholm). Lorenz arbeitet sogar schon an einem neuen Editionsband, dem Briefwechsel zwischen Willy Brandt und seinem langjährigen Mentor Jacob Walcher.

Von links nach rechts stehen Wolfram Hoppenstedt, Bernd Henningsen und Kristina Meyer bei der Buchvorstellung von „Nach dem Sieg“ im Forum Willy Brandt Berlin. Wolfram Hoppenstedt hält eine Ausgabe des Buches in den Händen.
Wolfram Hoppenstedt, Bernd Henningsen und Kristina Meyer bei der Buchvorstellung von „Nach dem Sieg“ in Berlin

Vorstand und Kuratorium

Zu ewigem Dank verpflichtet bleibt die Stiftung Dieter Dowe. Der ehemalige Leiter des Historischen Forschungszentrums der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn mit dem Archiv der sozialen Demokratie, das auch das Willy-Brandt-Archiv beherbergt, konnte im vergangenen Jahr seinen 80. Geburtstag feiern. Schon vor der Errichtung der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung war er an deren Konzeption und an den Verhandlungen zu ihrer Gründung beteiligt. Sieben Amtszeiten, 28 Jahre lang, hat Dieter Dowe mit unermüdlichem Engagement im Vorstand gewirkt und mitgearbeitet. Ohne ihn wäre die Stiftung nicht das, was sie heute ist. Am 8. Oktober hat das Kuratorium den »8. Stiftungsvorstand berufen, aus dem Herr Dowe nun ausgeschieden ist. Wir hoffen, dass er unserer Stiftung noch über viele Jahre verbunden bleiben wird. Als seine Nachfolgerin und Vertreterin der Friedrich-Ebert-Stiftung wurde Anja Kruke in den Vorstand berufen, die heutige Leiterin des AdsD in Bonn.

Dieter Dowe und Wolfgang Thierse
Dieter Dowe und Wolfgang Thierse bei der Verabschiedung von Dieter Dowe im Forum Willy Brandt Berlin

Seit nunmehr 23 Jahren hat Bundestagspräsident a. D. Wolfgang Thierse den Vorsitz des Kuratoriums der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung inne. Im Oktober 2023 konnte auch er sein achtes Lebensjahrzehnt vollenden. Dies war für unsere Stiftung Anlass, gemeinsam mit der Katholischen Akademie Berlin und dem Arbeitskreis Christinnen und Christen in der SPD zu gratulieren und ins Willy-Brandt-Haus einzuladen, um mit Freunden und Wegbegleitern gemeinsam mit Wolfgang Thierse auf dessen bisheriges politisches und gesellschaftliches Wirken zurückzublicken. Wir hoffen, dass seine gewichtige Stimme unserem Land noch viele Jahre erhalten bleibt und dass er seine wertvolle Arbeit an der Spitze unserer Stiftung noch lange fortsetzen kann.

Wolfgang Thierse reckt in der Mitte stehend einen Blumenstrauß in die Höhe. Links neben ihm steht die Bundestagsabgeordnete Kerstin Griese MdB. Rechts von ihm stehen Maria-Luise Schneider mit einem Geschenkkorb sowie Ulrich Schöler.
Kerstin Griese, Wolfgang Thierse, Maria-Luise Schneider und Ulrich Schöler im Willy-Brandt-Haus in Berlin

Ausblick und Danksagung

Die Stiftung hat sich große neue Projekte auf die Fahnen geschrieben: In gut zwei Jahren soll das Willy-Brandt-Haus Lübeck nach 19 Jahren eine neue Dauerausstellung bekommen. Das Grobkonzept steht vor seiner Fertigstellung und bildet die Grundlage für den geplanten Gestalterwettbewerb. Voraussichtlich 2027 steht der Wiedereinzug der Hauptgeschäftsstelle und des Forums Willy Brandt in das neu errichtete Elisabeth-Selbert-Haus des Deutschen Bundestages (Unter den Linden 62-68) an. Für Berlin wird dann ebenfalls eine neue Dauerausstellung entwickelt, in der Folge dann auch für den Standort Unkel. Zugleich haben sich die Voraussetzungen deutlich verschlechtert: Der Bundeshaushalt steht unter starkem Einsparungsdruck. Zugleich sind die Personalkosten ebenso wie die Nebenkosten für die Liegenschaften massiv gestiegen. Vorstand und Geschäftsführung sind jedoch zuversichtlich, dass auch unter diesen veränderten Rahmenbedingungen in Zukunft ein ansprechendes Stiftungsprogramm an den drei Standorten realisiert werden kann.

Garant dafür sind nicht zuletzt unsere hochmotivierten Mitarbeiterteams in Berlin, Lübeck und Unkel. Den Kolleginnen und Kollegen, auch in den Besucherdiensten und den ehrenamtlichen Kräften, gilt ein besonders herzlicher Dank für ihr intensives Engagement. Großer Dank gilt überdies den Mitgliedern unseres Internationalen Beirats sowie unseren engsten Partnern, den sechs weiteren Politikergedenkstiftungen des Bundes, dem Institut für Zeitgeschichte München–Berlin, der Hansestadt Lübeck und natürlich der Bürgerstiftung Unkel „Willy-Brandt-Forum“.

Der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, insbesondere dem Referat K41-2, danken wir für die enge und konstruktive Zusammenarbeit.

Dem Kuratorium gilt der Dank des Vorstandes und des Geschäftsführers für das auch im Jahr 2023 in sie gesetzte Vertrauen.

Prof. Dr. Ulrich Schöler
Vorsitzender des Vorstandes

Dr. Wolfram Hoppenstedt
Geschäftsführer

Cover des Jahresberichts 2023 mit Willy Brandt stehend hinter einem Rednerpult

Jahresbericht 2023 (PDF)

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